„Welches Thema möchten Sie heute angehen?“ frage ich zu Beginn jedes Coachingtermins meine Coachees. Die Termine werden dazu genutzt, das, woran der Coachee seit dem letzten arbeiten wollte, zu reflektieren oder bevorstehende Herausforderungen vorzubereiten.
Jan, ein Manager in einem Industrieunternehmen, beantwortete diese Frage in unserem letzten Termin mit: „Keine Ahnung!“ Sein letzter Urlaub war erst zwei Wochen her. Die Abteilungsergebnisse übertrafen die Planung bei weitem. Sein Team hatte auch während Jans Urlaub effizient zusammengearbeitet. Offensichtlich war es uns gelungen, in einer Teambuildingmaßnahme und durch Jans Coaching, den Konflikt, den ein paar Teammitglieder miteinander gehabt hatten, dauerhaft zu befrieden. Er meinte: „Es geht mir blendend. Ich habe noch nie so gerne und so erfolgreich mit einem Team zusammengearbeitet“. Das hört man doch gerne.
Ungerechte Beförderungsprozesse
Es gab aber dennoch etwas, das Jan interessierte. Er hatte sich während seines Urlaubs mit einem Kollegen seines ehemaligen Arbeitgebers getroffen. Der Kollege berichtete, der Manager, der den Posten erhalten hatte, den Jan auch gerne gehabt hätte, stünde aufgrund des veränderten Marktumfelds aktuell massiv unter Druck. „Als ich das gehört habe, habe ich einfach nur Genugtuung gespürt!“ gab Jan zu. Genugtuung – so eine interessante Emotion. Fühlt sich gut an, hat aber ähnlich der Schadenfreude den bitteren Beigeschmack einer Verletzung, die nicht verheilt ist. Ein spannendes Thema für diesen Termin.
„Was war so schlimm daran, dass du den Posten nicht bekommen hast?“ wollte ich wissen.
Jan antwortetet: „Es ging gar nicht so sehr um den Posten an sich, aber die haben nicht mal mit mir gesprochen. Dabei war ich längere Zeit im Potenzialpool. Mein Chef hat mich vor vollendete Tatsachen gestellt und mir gesagt, dass X mein neuer Chef würde. Einfach so.“
„Und was genau ist daran so schlimm?“ hakte ich nach. Dies irritierte Jan ein wenig. Er erhob die Stimme: „Der Prozess ist einfach nicht in Ordnung! So geht man nicht mit Menschen um! Das ist ungerecht!“
Leiden an subjektiv eingeschätzter offensichtlicher Unzulänglichkeit
„Wie alt ist dieses Gefühl? Woher kennst du das?“ fragte ich. Siehe da, Jan erinnerte sich an eine Situation, die die meisten von uns aus der Schulzeit kennen: Es werden zwei Mannschaften gebildet. Die Mannschaftskapitäne wählen Spieler in ihr Team. Wer als erster wählen darf, wird folgendermaßen entschieden: Sie stehen voneinander entfernt und bewegen sich Fuß (TIP) für Fuß (TOP) aufeinander zu. Tip-Top. Derjenige, der am Ende mit seinem Fuß auf den des anderen treten kann, darf mir der Wahl beginnen und wählt natürlich den aus seiner Sicht besten Spieler in sein Team. Dann kommt der andere dran. Der wählt unter den verbliebenen Spielern wiederum den besten usw. Je später man gewählt wird, desto schlechter wird man von den Mannschaftskapitänen eingeschätzt. Zug um Zug geht es weiter, bis am Ende nur noch die beiden schwächsten Spieler übrigbleiben. Die subjektiv eingeschätzte individuelle Unzulänglichkeit wird dabei für jeden offensichtlich.
Während Jan darüber sprach, wurde er immer emotionaler: „Ich habe das immer gehasst. Dieses Warten und Hoffen und am Ende doch nur auf Platz 3 oder 4 gewählt zu werden. Dabei war ich ein guter Fußballer.“ meinte er. „So grausam können Kinder sein!“
Scham, Ohnmacht und Wut – Klassiker unter Verlieren bei der Stellenbesetzung
Ich habe mir sagen lassen, im modernen Sportunterricht wird das Tip-Top-Prozedere inzwischen folgendermaßen vermieden: ein Schüler stellt zwei Mannschaften auf. Ein zweiter darf aussuchen, mit welcher er spielen möchte. Ganz automatisch bleiben dabei nicht die beiden vermeintlich schwächsten Spieler am Ende übrig. Das Scheitern der weniger sportlichen Kinder vor anderen ist dadurch umgangen. Das hilft, temporär das Problem zu umschiffen. Aber irgendwann kommt es in unserer Leistungsgesellschaft zu einer Bildung von Rangreihen, einer Auswahl der Besten, spätestens dann, wenn die Zahl der benötigten „Spieler“ limitiert ist.
Das ist ein Klassiker bei Stellenbesetzungen im Unternehmen. Schließlich kann es auf dem in Frage kommenden Posten immer nur eine(n) geben. Die emotionale Reaktion derjenigen, die nicht zum Zug kommen, ist wie bei Jan eine Mischung aus Scham, Ohnmacht und Wut – mal mehr, mal weniger ausgeprägt.
Oft können wir rein sachlich nachvollziehen, dass die Konkurrenz kompetenter eingestuft wurde als man selbst. Unser Ego möchte uns aber vor dem unangenehmen Verlierergefühl beschützen und sucht daher die Ursache dafür, dass wir uns schlecht fühlen, im Außen. Tut es das nicht, laufen wir Gefahr, in so etwas selbstzerstörerisches wie eine Depression zu rutschen. Da es die Aufgabe unseres Egos ist, uns zu schützen, findet es in der Regel, egal wie professionell und mit wieviel Aufwand der Prozess der Stellenbesetzung im Unternehmen gestaltet wird, jemanden oder etwas Schuldigen:
- „Der Chef, der den Kollegen befördert hat, hat keine Ahnung.“
- „Man hätte eine neutrale Instanz entscheiden lassen sollen. Warum gibt es bei uns kein Assessment Center?“
- „Das Assessment-Center bzw. das durchführende Beratungsunternehmen war schlecht!“
- „Wie kann das Ergebnis eines AC-Tags mehr ins Gewicht fallen als jahrelange Performance in der Firma?“
- Oder Jans Überzeugung; „Man hätte zumindest mit mir sprechen sollen!“
Dem Ego helfen, selbstkreierte Probleme zu lösen
Nur weil man von etwas überzeugt ist, muss dies nicht wahr sein.
Also fragte ich Jan angelehnt an Byron Katies „The Work“: „Ist das wahr, Jan? Man hätte mit mir sprechen sollen?“
Jan: „JA! In unseren Unternehmenswerten stand Transparenz und Ehrlichkeit.“
Ich bitte Jan, den Zustand anzuschauen, in dem er sich gerade befindet. Der Gedanke, dass man nicht mit ihm gesprochen hat, macht ihn jetzt, da er Jahre später daran denkt, immer noch fassungslos und wütend. Die Urlaubsstimmung, in der er sich zu Beginn unseres Termines befunden hatte, war komplett verflogen. So schnell geht das, wenn einen die Vergangenheit einholt. Wenn wir nicht klar sind, sind wir unseren Emotionen ausgeliefert, wie ein kleines Kind.
Ich: „Wer wärst Du ohne den Gedanken: „Man hätte mit mir sprechen sollen!“?“ Jan entspannt sich sofort deutlich. „Ich wäre frei.“
Wir steigen etwas tiefer ein und spielen verschiedene Szenarien durch. Jans damaliger Chef war vermutlich aufgrund von Beobachtungen im Arbeitsalltag zu der festen Überzeugung gelangt, X sei der geeignetere Kandidat für den Posten. Basierend auf dieser Grundannahme, wie wäre es, wenn X nach wie vor den Posten erhalten hätte,
- Jans Chef aber mit Jan noch ein Bewerbungsgespräch oder
- man ein Assessment Center durchgeführt hätte, bei dem beide Kandidaten gut abgeschnitten hätten?
Jan meint: „In diesem Fall hätte ich gesagt, dass das ohnehin ein abgekartetes Spiel war. Das Gespräch oder das AC hätte ich als unnötigen Zirkus betrachtet. Und da wäre ich erst recht sauer gewesen.“
Jan war verblüff. Die Umkehrung seines ursprünglichen Gedankens hatte etwas Wahres für sich: „Man hätte NICHT mit mir sprechen sollen.“
Zum Glück können wir unserem Ego dabei helfen, selbstkreierte Probleme zu lösen.
Macht und Ohnmacht akzeptieren
Michael Paschen und Erich Dihsmaier schreiben in ihrem sehr lesenswerten 2011 erschienen Buch Psychologie der Menschenführung: Wie Sie Führungsstärke und Autorität entwickeln: „Um erst einmal ein Verhältnis zur Macht aufzubauen, muss man in der Lage sein, auch die eigene Ohnmacht auszuhalten, weil man im Leben immer Macht und Ohnmacht integrieren können muss. Wer mit eigenen Ohnmachtserlebnissen nicht fertig wird, kann nicht vertrauen und bleibt als ewiger Skeptiker ein Vermeider von Beziehungen, in denen Macht eine Rolle spielt.“ (S. 196)
Jan hatte vor einiger Zeit aus Wut über die Ungerechtigkeit im Beförderungsprozess sein Unternehmen verlassen. Sein aktueller Arbeitgeber schätzt seine Kompetenzen sehr, empfahl ihm aber ein Coaching, um an seiner als distanziert wahrgenommenen Haltung zu arbeiten, bevor es potenziell weiter geht auf der Karriereleiter.
Es schien, als habe Jan in dem Termin verstanden, dass er keine Kontrolle darüber hat, wie und ob er befördert wird. Er hat gelernt, diese Art von Ohnmacht besser für sich zu akzeptieren. Er fühlte sich danach etwas erschöpft und gleichzeitig sogar leichter als zu Beginn unseres Termins. Sollte ihm eine weitere Runde Tip-Top bevorstehen, scheint er dafür nun deutlich besser gerüstet.