„Wie war das Wetter im Urlaub?“ fragen Kunden oft, wenn man sich nach der Urlaubszeit wieder begegnet. Ein Urlaub scheint vor allem dann gut zu sein, wenn die Sonne scheint und es warm, aber nicht brüllend heiß ist. Seitdem ich surfe, muss ich jedes Mal ein wenig nachdenken, wie das Wetter denn nun war im Urlaub.

Hat es geregnet? Keine Ahnung. Im Meer ist es ohnehin nass.
War es warm? Weiß ich nicht, ich trage im Atlantik einen Neoprenanzug.

Perfekte Bedingungen für die Arbeit

Ich kann zwar nicht sagen, wie das Wetter im Urlaub war, dafür aber für jeden Tag auswendig abrufen, welche Surf-Bedingungen jeweils geherrscht haben. Mein persönliches Surferglück lautet: schulterhoch, 12 Sekunden und leichter off-shore Wind. Sie verstehen nur Bahnhof? Das ist in Ordnung, aber eigentlich ganz einfach: Sie haben vermutlich auch im Berufsleben Bedingungen, unter denen Sie besonders gut und gerne arbeiten. Die üblichen Verdächtigen sind:

  • verantwortungsvolle, abwechslungsreiche, sinnvolle Aufgaben
  • angenehme Kunden bzw. Kollegen
  • attraktives Einkommen
  • „gute“ Führungskraft

Führungskräfte(-Entwicklung) – Totalversagen seit Jahrzehnten?

Besonders wichtig scheint es zu sein, einen guten Chef zu haben. Denn Mitarbeiter verlassen nicht Unternehmen, sie verlassen ihre Vorgesetzte, wie man in sozialen Medien immer wieder lesen kann. Vorgesetzte, die einen quasi zur Kündigung drängen, sind unfähig, wenig wertschätzend, narzisstisch oder gar toxisch. LinkedIn und Co. sind voll von Informationen, was eine „gute“ Führungskraft ausmacht. Die Liste der Eigenschaften, die diese mitbringen und entwickeln sollte, hat sich in den letzten Jahrzehnten immer mal wieder ein bisschen geändert und sie wird kontinuierlich länger. Eine Führungskraft, welche diese Liste dauerhaft erfüllt, habe ich allerdings noch nicht kennengelernt. Jetzt könnte man sagen: die Unfähigkeit auf den Chefetagen gereicht mir zum Vorteil, denn dadurch werde ich als Coach nie arbeitslos. Aber wenn alle Führungskräfte seit Jahrzehnten eher „geht so“ sind, hat dann nicht die Führungskräfte-Diagnostik und -entwicklung total versagt – meine Wenigkeit eingeschlossen? Das ist eine Möglichkeit.

Rahmenbedingungen echter Führungskräfte

Wie wäre es, wenn wir uns mal von der Idee der guten oder gar perfekten Führungskraft verabschieden könnten? So wie der Ozean ständig in Bewegung ist und jede Welle unterschiedlich, haben allen Menschen, gute und komplizierte Momente, die es ihnen mal mehr mal weniger ermöglichen, einen guten Job zu machen. Anders ausgedrückt: Irgendwas ist immer. Alle Zustände sind vergänglich. Und manchmal kommt einfach das Leben dazwischen. Oder wie Matt Griggs sagt: „Don’t try and get a perfect life, get a real one“.

Auch meine Coachees arbeiten manchmal unter Rahmenbedingungen, die es ihnen nicht erleichtern, eine „gute“ Führungskraft zu sein, wie z.B.:

  • Ein Manager, dessen Vater überraschend gestorben ist und im Job funktionieren muss.
  • Eine Managerin, die über Jahre vergeblich versucht, durch IVF schwanger zu werden. Der letzte Versuch scheitert mit einem Abort auf einer Geschäftsreise im Ausland.
  • Ein Manager, der mit dem Schlaf kämpft, weil ihm neben dem schwächelnden Unternehmensergebnis vor allem nachts seine Ehekrise quält.
  • Eine Führungskraft, die unter einem stark kontrollierenden Chef arbeitet, der anruft, um geschäftliches zu klären, als sich mein Coachee zur Vorbereitung einer Krebs-OP im Krankenhaus befindet.

Wie kann man hier erwarten, dass Führungskräfte funktionieren? Das überraschende ist, sie tun es, mal besser mal schlechter. In allen vier o.g. Fällen handelt es sich um Führungskräfte, die im letzten Geschäftsjahr Bestnoten in ihren jährlichen Ratings erhalten haben, auch wenn sie mal geistig abwesend, angestrengt, gereizt, emotional oder ungeduldig waren. Ich weiß nicht, wie sie es schaffen, die Fassade im Großen und Ganzen aufrecht zu erhalten, auch wenn innerlich Vieles nicht in Balance ist. Es überrascht mich, dass nicht viel mehr Führungskräfte unter dem Anspruch, den sie selbst und andere an sie haben, öfter durchdrehen. Alle vier haben mir gegenüber gesagt, dass unser Coaching sie beim Nicht-Durchdrehen unterstützt hat.

 Emotionen nicht wegdrücken 

Ein Coaching kann hilfreich sein, wenn die Rahmenbedingungen besonders belastend sind. Der Umgang mit den unangenehmen Emotionen, die unter diesen auftreten, fällt vielen Menschen nicht leicht. Das liegt daran, dass sie es entweder nicht gelernt haben oder sich dafür nicht die Zeit und den Raum nehmen. Üblicherweise sind meine äußerst leistungsfähigen Coachees eher darin geübt, unangenehme Emotionen wegzudrücken. Sie sind sich dessen nicht gewahr, dass Emotionen, die man in den Keller drückt, dort in den Kraftraum gehen. Wenn der Druck zu groß wird, bahnen sich die Emotionen auf wenig produktive Art und Weise einen Weg, in Form von Schlaflosigkeit, Grübeln, Gereiztheit, Depression etc. Im Coaching üben meine Coachees, unangenehme innere Zustände wahrzunehmen und zu akzeptieren.

Weise Entscheidungen treffen

Im nächsten Schritt arbeiten sie daran, sich auf das zu konzentrieren, was sie gerade kontrollieren können. Eckhart Tolle schreibt in seinem Bestseller „Jetzt“: „Problem bedeutet, dass du im Kopf mit etwas beschäftigt bist, ohne die ehrliche Absicht oder Möglichkeit jetzt zu handeln.“ Wenn gefühlt nichts funktioniert, ist das, was man immer kontrollieren kann, der nächste Atemzug. Irgendwann spürt man wieder, dass man atmet und lebt. Das fühlt sich in der Regel besser an als der Zustand davor, leichter und freier. Ich empfehle dann die Frage: was ist jetzt eine weise Entscheidung? Durchdrehen ist sicherlich keine. Das übe ich mit meinen Coachees.

Immer wieder. Moment für Moment. Atemzug um Atemzug. Es ist jedes mal eine bewegende Erfahrung für mich.

Man muss nicht immer glücklich sein – ja, aber auch nicht unglücklich

Sind damit die belastenden Rahmenbedingungen weg? Natürlich nicht. Aber Achtsamkeit hilft, nicht den Verstand zu verlieren und handlungsfähig zu bleiben. Jeder Moment, in dem mein Coachee in einer belastenden Phase zur Ruhe kommt, Leichtigkeit, Freiheit oder sogar Glück empfinden kann, ist ein Schritt in die richtige Richtung. „Aber man muss doch nicht immer glücklich sein“, begegnet mir inzwischen als Argumente gegen Achtsamkeit auf den sozialen Medien. Dem stimme ich zu. Man muss nicht. Man muss aber auch nicht immer unglücklich, traurig oder unzufrieden sein. Man hat keine Kontrolle über die Bedingungen, aber man hat die Wahl, wie sehr und wie lange man darunter leidet. Immer. Leid loszulassen ist möglich mit etwas Übung, wenn auch nicht immer so schnell, wie wir das gerne hätten.

Glücklich in bescheidenen Wellen

Am 06.07.2024, befinde ich mich im Urlaub in Hossegor, dem französischen Surfmekka. Es ist mein Geburtstag, und wie so oft eine gute Gelegenheit, über das Leben zu kontemplieren. Neben all den bewegenden Momenten mit meinen Kunden hat mich die letzten 12 Monate der Tod meiner überraschend verstorbenen, besten Schulfreundin, Anja berührt. Heute bin ich 55, ein Alter, das Anja nicht erreichen durfte. Ich arbeite seit 23 Jahren als Coach. Immer wieder schenken mir Führungskräfte ihr Vertrauen und erleben das Arbeiten mit mir als hilfreich. Meine Coachees sind keine perfekten Menschen, aber sie sind echt und lernen. Was für ein Privileg, dass ich sie begleiten darf.

Der Atlantik liefert dem Geburtstagskind hüfthohe Wellen. Der starke on-shore Wind zerbläst diese in Weißwasserwaltzen. Alles andere als perfekte Bedingungen. Diese „Wellen“ sind eigentlich nicht surfbar. Das am letzten Urlaubstag vor einer dreimonatigen Surfpause – wie ärgerlich. Dazu Nieselregen und 22 Grad Celsius Außentemperatur.

Egal, ich stürze mich in die Fluten. Was für ein Geschenk, dass ich immer noch körperlich in der Lage bin, mit dem Ozean zu spielen. Wen interessiert das Wetter? Wen die Bedingungen? Ich erwische zwei äußerst bescheidene Wellen und bin glücklich. Warum? Weil ich trainiere und weil ich es kann.