„Frau Keromosemito, ist Herr M. Ihrer Meinung nach, ein Narzisst?“ fragte mich letzthin, Herr O., Geschäftsführer eines Maschinenbauunternehmens. Wir bereiteten gemeinsam eine Konfliktmoderation mit Herrn M., seinem Betriebsratsvorsitzender vor. Diesen hatte ich bereits persönlich kennengelernt, ihn aber nicht als auffällig abgespeichert. „Wie kommen Sie darauf?“ fragte ich. „Der ist doch total selbstverliebt!“ antwortete Herr O. Okaayyyy?

Nicht selten werden mir Menschen als schwierig, cholerisch oder empathielos beschrieben. Seit einiger Zeit scheint jedoch Narzissmus die Lieblingsdiagnose in (deutschen) Unternehmen zu sein. Selbstverständlich ist mir das Konzept der narzisstischen Persönlichkeitsstörung bekannt. Da ich aber in meinem Studium die klinische Psychologie geschickt umschifft habe, habe ich keine Erfahrung darin, diese Störung zu diagnostizieren. Das überlasse ich lieber meinen hierfür ausgebildeten Kollegen.

 

Diagnostik = die Guten ins Töpfchen…

Überhaupt die (Eignungs-) Diagnostik. Über 20 Jahre habe ich In Assessment Centern und Audits Menschen hinsichtlich ihrer Eignung für die Chefetage überprüft. Bringt jemand hierfür die „richtigen“ Persönlichkeitseigenschaften mit, ist dabei eine zentrale Frage, oder anders gesagt: Wie ist jemand und wie wird er in Zukunft sein? Man sucht nach stabilen, erfolgsrelevanten Verhaltensweisen. Um diese herauszufinden, entwickelt man Anforderungsprofile und führt Interviews, Fallstudien, Tests, Fragebögen etc. durch. Hierfür wird in vielen Unternehmen eine Menge Aufwand betrieben und oft sehr professionell gearbeitet. Am Ende kommen daher meist sehr klare Ergebnisse heraus: geeignet oder nicht geeignet!

Geht es jedoch darum, menschliches Verhalten zu verändern, wie z.B. im Coaching, ist die Diagnostik nicht immer hilfreich. Die Information, ob der vor mir sitzende Menschen in seinem Unternehmen als High Potential oder normal sterbliche Führungskraft gilt, ist für meine Arbeit irrelevant. Zu denken, jemand habe eine narzisstische Persönlichkeit, kann sogar kontraproduktiv sein. Narzissten gegenüber verhalte ich mich eher skeptisch oder gar misstrauisch – keine gute Basis für ein Coaching. Und ändern kann man Persönlichkeiten sowieso nicht, oder?

 

Coaching = Zustände erkennen und verändern

Für meine Coachings stelle ich inzwischen das Konzept der Persönlichkeit beiseite. Vielmehr betrachte ich die Zustände, aus denen Menschen heraus agieren.

  • Was macht mich ungehalten oder ungeduldig?
  • Wann stellen sich Ängste oder Ärger ein?
  • Wie würde ich am liebsten aus diesem Zustand heraus agieren?
  • Was tue ich stattdessen im echten Leben?
  • Und last but not least: wie komme ich aus diesem Zustand wieder heraus?

Werde ich von anderen als arrogant, überheblich oder eben narzisstisch wahrgenommen, befinde ich mich häufig in einem Zustand der Hybris, der Anmaßung. Ich gebärde mich als etwas Besseres. Oft liegt unter diesem Verhalten Angst oder Unsicherheit. Und weil niemand 24 Stunden am Tag angstgesteuert ist, verhält sich auch niemand immer narzisstisch. Nachts schläft die Hybris und morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung, selbst für den Narzissten in uns. Sollte es dich doch im Laufe des Tages erwischen, dass du abhebst, kein Problem: jeder Zustand ist vergänglich! Mehr zu diesen Zuständen und wie man durch Achtsamkeit aus diesen herauskommt, kann man in „Du bist nicht, was du denkst“ von Georg Lolos nachlesen.

 

Ein Kotzbrocken mit Siegelring

Zurück zu dem vermeintlichen Narzissten Herrn M. Nach dem ersten Schluck Kaffee, den er in meinem Büro  trank, erklärte er, dass eine Schweizer Luxusmarke sein Favorit unter den Kaffeemaschinen sei. Viel besser als die Italiener! So eine habe er sich zu seinem letzten Geburtstag gegönnt. Das Leben sei zu kurz für schlechten Kaffee. Dabei strich er sich durch seine perfekt gestylte Haarpracht, wobei mir sein Siegelring an der linken Hand auffiel. Herr M. berichtete von seiner Familiengeschichte, die er bis ins 14. Jahrhundert zurück recherchiert hat, wie ich später erfuhr. Mir wurde so ein wenig übel und dachte „was für ein Kotzbrocken“. Dabei war ich mir nicht sicher: lag das nun an Herrn M. oder dem Narzissmus-Briefing von Herrn O.? Irgendwie erinnerte Herr M. mich fatal an Herrn S., den Vertriebsleiter eines anderen Kunden. Auch so ein arroganter Schnösel. Wann hatte ich eigentlich Herrn S. im Assessment Center? 1999? Während Herr M. redete und redete, legte ich im Kopf Prince auf. „I was dreamin‘, when I wrote this, forgive me if it goes astray, but when I woke up this mornin‘ could’ve sworn it was judgment day…Ich liebe diesen Song! War Prince eigentlich ein Narzisst? MOMENT: Wachen Sie mal auf, Frau K!

 

Achtsamkeit: Mensch sitzt auf Stuhl

Jetzt fiel mir auf: Frau sitzt auf Stuhl und war gedanklich irgendwo und sicher nicht im Hier und Jetzt. Ich brachte die Aufmerksamkeit in meine Füße und in das Gewicht meines Körpers auf dem Stuhl. Tief durchatmend schaute ich Herrn M. an. Mann sitzt auf Stuhl und erzählt Geschichte. Einfach nur ein Mensch. Das ist alles, was ist. Ich startete innerlich den Termin neu. Nun war ich wirklich da und konnte zuhören. So fanden wir zu einem angenehmen Gesprächsmodus.

Nach einiger Zeit fragte ich Herrn M., was seine Sorgen in Bezug auf das bevorstehende Gespräch mit Herr O. seien.

Herr M.: „Seitdem wir von den Franzosen übernommen wurden, stehen wir auf der schwarzen Liste. Jetzt kam auch noch Corona. Wir haben schon Kurzarbeit und demnächst will Herr O. eine Produktionslinie dichtmachen. Da hängen aber zig Arbeitsplätze dran. Die Pläne hat der doch schon lange in der Schublade. Und nun setzt er so eine Pseudoverhandlung auf. Dieser arrogante, selbstverliebte Typ. Die Mitarbeiter, und die Familien, die da dranhängen, sind dem doch total wurscht!“ Wut kam auf bei Herrn M.

Ob wohl Herr M. dachte, sein Geschäftsführer sei ein Narzisst? Fokus Lara, Fokus!

 

Angst und Ärger = Antreiber für ungünstiges Verhalten

Ich: „Was ist Ihre Sorge, wenn das wirklich passiert, wenn zig Kollegen ihren Arbeitsplatz verlieren?“
Herr M.: „Das darf nicht passieren!“
Ich: „Ich weiß. Aber was ist dann?“
Herr M: „Das geht nicht.“
Ich: „Gut und wo spüren Sie das in Ihrem Körper?“
Herr M. schloss die Augen und deutete auf die Stelle unterhalt des Brustbeins. „Hier, wie ein Stechen!“
Ich: „Ok. Und was denken Sie dann?“
Herr M: „Dass alle mich auslachen.“
Ich: „Und woher kennen Sie das Gefühl?“
Herrn M. stiegen Tränen in die Augen: „Das ist uralt!“

Das Stechen in der Brust erinnerte Herr M. an eine Situation auf dem Schulhof. Es sollten zwei Mannschaften gebildet werden. Die Mannschaftskapitäne wählten abwechselnd ihre Teammitglieder aus. Zuerst sicherten sie sich die Guten. Je später man gewählt wurde, desto schlechter war man in den Augen der anderen. Herr M. war laut eigenen Aussagen ein sportlicher Junge und nie der letzte, der ausgewählt wurde. Aber die Angst davor steckt ihm bis heute in den Knochen. Mit mir übte er, sich in diese Angst hineinzuentspannen, statt sie wütend wegzudrücken.

Viele (sozialen) Ängste haben wir früh gelernt, d.h. in der Kindheit. Meist äußern sie sich durch ein Ziehen oder Stechen irgendwo im Körper. Wenn diese Ängste getriggert werden, startet ein Gedankenkarussell. Dies wiederum führt zu Verhaltensweisen, die der Psychotherapeut Jens Corssen als „ungünstig“ bezeichnen würde. Wir kaufen uns überteuerte Kaffeemaschinen oder gebärden uns besonders selbstsicher. Wir plustern uns auf, weil wir gesehen werden wollen oder uns bedroht fühlen. Wir kämpfen im Unternehmen gegeneinander, statt zu kooperieren. Das geht immer zu Lasten der Effizienz und es ist echt anstrengend!

 

Mehr Effizienz und Leichtigkeit

Wie schön ist es, aus diesen Zuständen herauszufinden. Es macht das Arbeiten und das Leben so viel leichter. Nebenbei verhindert es langfristig die Totalkatastrophe. Frei nach Byron Katie: „In the end we DON’T become, what we fear most.“

Im Fall von Herr M. ist das gelungen. Nach unserem gemeinsamen Termin konnte er sich auf ein konstruktives Miteinander mit seinem Geschäftsführer einlassen. Herr M. und Herr O. erinnerten sich daran, dass sie beide das Beste für das Unternehmen wollen. Zwar hatten sie im Detail unterschiedliche Vorstellungen, wie sie da hinkommen, waren nun aber besser in der Lage, einen gemeinsamen Weg zu finden. Wir konnten nie abschließend klären, ob einer von beiden ein Narzisst ist oder nicht. Es erschien aber auch nicht mehr wichtig.

Herrn O. fragte mich letzthin, was ich mit Herrn M. gemacht hätte. Herr M. habe sich wirklich verändert – er sei so viel umgänglicher geworden. Das hat mich ungemein gefreut. An dem Abend habe ich Prince aufgelegt. So tonight I’m gonna party like it’s 1999! Dazu bin ich ausgelassen, alleine durch meine Wohnung gehüpft – ist ja 2021 und das ist auch gut so.

P.S.: Wenn Sie das Lied nach dem Lesen des Artikels nicht mehr aus dem Kopf bekommen, denken Sie daran: jeder Zustand ist vergänglich!