„Wie war Dein Urlaub?“ wurde ich die letzten Tage häufig gefragt. „Gar nicht“ lautet die Antwort. Nachdem meine Kinder nicht mehr schulpflichtig sind, arbeite ich den Sommer 2023 durch und gehe im Herbst, wenn die Wellen wieder gut sind. Ich muss sagen, arbeiten, wenn viele Kunden im Urlaub sind, ist etwas feines. Sehr viel entspannter als sonst und ich habe sogar Zeit gefunden, das nun endlich auf Deutsch erschienene Buch „Wie Gefühle entstehen“ von Lisa Feldman Barrett zu lesen.

Es hat mir so ein bisschen den Boden unter den Füßen weggezogen. Vieles, was mir im Hinblick auf das Gehirn und die Entstehung von Emotionen beigebracht wurde und ich weitergegeben habe, ist, wenn man der renommierten Psychologin und Neurowissenschaftlerin glauben darf, veraltet und schlichtweg falsch.

Einige ihrer wissenschaftlich gut belegten Grundthesen sind:

  1. Wir kreieren unsere Emotionen selbst.
    Sie sind nicht „in unseren Gehirnen und Körpern vorprogrammiert“. Sie werden nicht, wie nach wie vor gelehrt wird, durch Ereignisse im Außen triggert. Emotionen sind “Erfahrungen, die jeder von uns auf der Grundlage seiner einzigartigen persönlichen Geschichte…konstruiert“. Unser Gehirn trifft Vorhersagen und erstellt Simulationen, was passieren wird. Basierend auf dieser Simulation wählt es dann schnell und effizient eine passende Reaktionen aus. Dabei kann es neue Informationen nutzen, um die Vorhersage und damit die Simulation anzupassen. In diesem Fall lernen wir etwas Neues. Das Gehirn kann aber auch neue Informationen FILTERN oder IGNORIEREN. Das ist für das Gehirn viel energieschonender als umzudenken, lässt uns aber in nichtzutreffenden Vorhersagen verharren.
  2. Welche Emotionen wir kreieren, hängt maßgeblich vom Köperbudget ab.
    Dieses entscheidet, ob wir schlecht oder positiv gestimmt in den Tag gehen. Sind wir unterzuckert oder unausgeruht, siegt Ärger leicht über Gelassenheit.
  3. Um mit unseren Emotionen besser umzugehen, hilft es, die Granularität zu erhöhen.
    Je differenzierter wir den eigenen Zustand wahrnehmen und beschreiben können, desto mehr unterschiedliche Möglichkeiten geben wir uns, auf Ereignisse adäquat zu reagieren.

Absolut spannend. Und was mache ich jetzt damit? Erst mal sacken lassen. Ach ja, statt Urlaub zu machen, habe ich meinem 82-jährigen Vater bei seinem Umzug von München nach Köln geholfen.

Digitalisierung mit Wartenummern

Dies bescherte mir eine besondere Erfahrung. Für die Anmeldung seines Wohnsitzes benötigten wir einen Termin bei der Stadt, spätestens zwei Wochen nach dem Umzug. Als wir diesen am 10.06. anfragten, wurde uns einer für den 21.08.2023. angeboten. Im Ernst? Na gut, man kann sich auch ganz oldschool an einem beliebigen Mittwoch im Amt einfinden, eine Wartenummer ziehen und warten, bis man drankommt. Selbstredend muss man vorher sämtliche Daten in ein Online-Formular eintragen. Das nennt man dann wohl Digitalisierung. Mein Vater und ich saßen also um 7:30 Uhr mit dem pflichtbewusst ausgedruckten Formular und Wartenummer auf dem Amt. Mit jeder Minute Wartezeit schimpfte es immer lauter in mir. NICHTS funktioniert in dieser Stadt. Wofür zahle ich eigentlich Steuern? Nach 60 Minuten kamen wir dran.

10 Minuten später war der Vorgang erledigt. Kaum hatten wir das Gebäude verlassen, wollte ich meinem Ärger über die Stadt Köln Luft machen. Da fing mein Vater begeistert an zu plaudern: „Toll, wie schnell das ging und so einfach. Das war alles schon im Computer. Und die Menschen so freundlich! In Indonesien (seinem Geburtsland) hätte das zwei Wochen gedauert!“

Ärger oder Begeisterung – selbstgebaut statt getriggert

Ein und dasselbe Ereignis führt zu so unterschiedlichen Emotionen. Es scheint was dran zu sein an der These, dass wir unsere Emotionen selbst kreieren und diese nicht von außen getriggert werden.

Egal, wie die Anmeldung meines Vaters in der Realität lief, ICH blieb genervt und verärgert und gab mir keine Chance, eine erfreuliche Erfahrung mit der Stadt Köln zu machen. MEIN VATER hingegen, gebeutelt durch seine Erfahrung mit indonesischen Institutionen und seiner daraus resultierenden Begeisterung für die deutsche Verwaltung, empfand das Ganze wie einen fröhlichen Ausflug mit seiner Tochter. So kultivieren Menschen ihre Vergangenheit, um ihre Zukunft zu kontrollieren, wie Lisa Feldmann Barrett in einem Podcast mit Lex Fridman das nennt.

Schlafen, Essen und Bewegung – die Basis eines gesunden Mindsets

Wir sind dem jedoch nicht hilflos ausgeliefert. Wir können unsere Emotionen und damit unser Leben positiv beeinflussen. Du musst dazu nicht Intentionen ins Universum schicken, um Glück zu manifestieren, wie der ein oder andere Mentalcoach uns auf Instagram erklärt. Lisa Feldmann Barrett empfiehlt ganz pragmatisch: genügend Schlaf, Bewegung und eine ausgewogene Ernährung. Ist vielleicht nicht ganz so spirituell, scheint aber zu funktionieren. Ich hatte tatsächlich in der tropisch heißen Julinacht vor dem Termin kaum geschlafen. Gut möglich, dass mich das auf Krawall gebürstet hatte. Für das Wetter und meinen Schlaf kann die Stadt Köln ja nun wirklich nichts.

Kafkaeske Papafürsorge

Und was ist gemeint, wenn Lisa Feldmann Barrett davon spricht, wir sollen unsere emotionale Granularität erhöhen? Das geht, indem wir unseren Zustand möglichst präzise beschreiben und Begriffe dafür finden:

  • Ich fühlte mich auf dem Amt kafkaesk, d.h. wie der Landvermesser K. in Kafkas Roman „Das Schloss“ ausgeschlossen, weil ich nicht wusste, wie lange das Ganze dauern würde.
  • Es plagte mich Kundentermindruck, da ich Sorge hatte, einen Call zu verpassen, der für 12:30 Uhr angesetzt war.
  • Ich litt unter Papa-Sorge, weil ich es meinem betagten Vater nicht zumuten wollte, lange auf den ungemütlichen Stühlen zu sitzen.
  • In diesem Zustand blendete mein Gehirn aus,
    • dass der Wartenummernticker zügig in Richtung unserer Nummer zählte,
    • es noch 3,5 Stunden bis zu meinem Call waren und ich ihn notfalls ja noch verschieben konnte und dass
    • mein Vater entspannt, wie ein Teenager, auf seinem Handy spielte. Lang lebe des Gratis-WLAN der Stadt Köln! Und wie schön ist es, 60 Minuten mit meinem Vater zu haben.

Man lernt nie aus!

Wenige Tage später hatte Tom, Bereichsleiter eines Handelsunternehmens, seinen letzten Coaching-Termin bei mir. Während des Coachings hatten wir daran gearbeitet, seinen Bereich und sich nach dem Fortgang des alten Geschäftsführers erfolgreich zu positionieren. Diverse Gespräche mit dem neuen Geschäftsführer, Peter, haben wir gemeinsam vorbereitet und im Nachgang reflektiert. Das schien Tom eine große Hilfe gewesen sein. Stand er zu Beginn des Coachings kurz davor zu kündigen, wirkte er nun, sechs Monate später, motiviert und commited.

Kinder krank, Chef baut Mist – Willkommen zurück nach dem Urlaub

Unser letzter Termin fand online stand, da Toms Kinder nach dem Urlaub erkrankt waren und nicht in die Kita konnten. Er selbst hatte zwei Nächte wenig geschlafen. Tom war zudem ungehalten, weil Peter während Toms Urlaub eine – aus seiner Sicht ungünstige – Entscheidung getroffen hatte. Im letzten Moment konnte Tom Peter von dessen Entscheidung abbringen. Ich fragte Tom, was bei ihm los sei.

Tom: „Peter versucht in meiner Abwesenheit Nägel mit Köpfen zu machen. Das nervt echt. Wenn ich nicht eingegriffen hätte, hätte er das einfach durchgezogen. Aber eins sage ich Dir, wenn das nochmal passiert, dann bin ich raus.“

Derartige Aussagen hatte ich schon öfter von Tom gehört. Ich bat ihn, genauer hinzufühlen, wie es ihm ging.

Tom: „Ich bin stinksauer und genervt!“
Ich: „Was noch?“
Tom: „Ich weiß nicht. Ich traue Peter einfach nicht.“
Ich: „Und wie lange ist das schon so?“
Tom: „Seitdem er vor einem Jahr den Posten übernommen hat. Und die Aktion von dieser Woche bestätigt ja wohl, dass ich ihm zurecht misstraue.“
Ich: „Gab es in dieser Zeit auch Hinweise die DAFÜR sprechen, dass Du Peter trauen kannst?“

In der Skepsis-Echokammer

Tom wurde sehr nachdenklich. Es fielen ihm nun, da er sich ein wenig entspannte, eine ganze Reihe von Belegen dafür ein, dass er eigentlich ganz gut mit Peter zusammenarbeitete. Sein Bereich stand, seitdem Peter sein Chef war, besser da als zuvor. Er hatte mehr Freiheitsgrade und sein Gehalt war angehoben worden. In vielen Gesprächen sei Peter sachlich, ruhig und offen gewesen. Er habe Tom auch gestern, als dieser bisweilen laut wurde, gut zugehört und dann seine Entscheidung in Teilen revidiert.

Tom erkannte, dass er Peter immer wieder skeptisch begegnet, egal, was dieser tat. Informationen, die für ein vertrauensvolles Miteinander mit Peter sprachen, ignorierte er. Informationen, die seine Skepsis untermauertem, gewichtete er höher. Tom sagte, er fühle sich wie in einer Echokammer. Wenn er sich in seiner Skepsis-Echokammer befand, gab er sich nicht die Chance, eine neue Erfahrung mit Peter zu machen. Diese Erkenntnis wiederum fühlte sich für mich an wie eine kleine Erleuchtung.

Erleuchtungstango – ein guter Urlaubsersatz.

Tom war nun zuversichtlich, dass er die Zusammenarbeit mit Peter auch in Zukunft konstruktiv gestalten könnte. Er wollte darauf achten, weniger Zeit in der Skepsis-Echokammer zu verbringen. Erleichtert und beschwingt verließ Tom unseren gemeinsamen Termin.

Was für ein Finale für ein Coaching! Das ist für mich als Coach einfach das beste Gefühl. Etwas selbst zu verstehen, die Erfahrung weiterzugeben und dadurch Klarheit und Leichtigkeit bei Menschen hervorzurufen.
Wie das Gefühl heißt? Wie wäre es mit Erleuchtungstango?
Wer braucht Urlaub, wenn man Erleuchtungstango tanzen kann?