„Was hätten Sie an meiner Stelle gemacht?“ fragen mich viele Coachees, wenn sie von herausfordernden Situationen aus ihrem Arbeitsalltag berichten. Vor kurzem tat dies Herr V., Geschäftsführer einer Tochtergesellschaft in einem Konzern. Er war in einen Konflikt mit Herrn T. geraten, dem Geschäftsführer einer anderen Gesellschaft des Unternehmens, also einem Kollegen.
Herr V. benötigte für eine Kundenanfrage die Unterstützung von Herrn T. Dieser hatte aber Herrn V. über Wochen vertröstet: zu viel zu tun! Wenige Tage vor unserem Coachingtermin hatte sich Herr T. nun der Angelegenheit von Herrn V. angenommen. Er hatte alles notwendige in die Wege geleitet und auch bereits den Kunden informiert. So weit so gut. Allerdings teilte Herr T. in einer Mail Herrn V. auch mit, dass er den Umsatz für den Auftrag seinem eigenen Unternehmen gutschreiben würde. Damit war Herr V. alles andere als einverstanden. Er schrieb eine Mail an den Vorstand des Unternehmens, setzte das ganze Führungsteam in cc und lieferte sich eine lautstarke telefonische Auseinandersetzung mit Herrn T.
Vom Kooperations- in den Kampfmodus
Ich atmete tief durch, als Herr V. mir diese Geschichte erzählte. Eines seiner erklärten Coachingziele ist es, sich zukünftig mehr auf strategische Themen zu konzentrieren und weniger vom Tagesgeschäft absorbiert zu werden. Was hätte ich an Herrn V.’s Stelle gemacht? Keine Ahnung. Mich interessierte erst mal mehr, was in Herrn V. in dieser Situation vorging, also sein Autopilot, der ihn vom Kooperations- in den Kampfmodus umschalten ließ.
Ich: „Wie haben Sie sich gefühlt, als Sie die Mail von Herrn T. gelesen haben?“
Herr V.: „Das ist MEIN Kunde. Wie immer machen WIR die ganze Arbeit und die Kollegen sahnen ab. Und am Ende kriege ich vorgeworfen, dass ich meine Zahlen nicht erreiche. Wie ich mich gefühlt habe? Stinksauer!“ Herr V. redete sich immer mehr in Rage. Schon erstaunlich, wie alleine die Erinnerung an den Vorfall aus diesem sympathischen Menschen einen Bulldozer machen kann.
Ich: „Ok. Ich meine aber den Moment als Sie die E-Mail gelesen haben. Welche Emotion kam da hoch?“
Herr V.: „Es war wie ein Schlag in die Magengrube.“
Ich: „War das Ohnmacht?“
Herr V.: „Ja genau, Ohnmacht.“ Herr V. schaute mich überrascht an.
Ohnmacht – der Schlag in die Magengrube
Ohnmacht ist eine dieser Emotionen, derer wir uns wenig bewusst sind. Dennoch erlebt jeder in einem Unternehmen irgendwann Ohnmacht: ein Kollege macht etwas Überraschendes und zugleich Unangenehmes. Wir sind fassungslos, für einen Moment sprachlos. Wenn man genau hinspürt, macht sich Ohnmacht wie ein Ziehen oder Druck im Bereich des Solarplexus bemerkbar, also über dem Bauchnabel unterhalb des Brustkorbs. Der berühmte Schlag in die Magengrube. Ein Moment der Leere im Kopf tritt dann oft ein. Einer der Gründe, warum wir uns häufig unserer Ohnmacht so wenig bewusst sind, könnte sein, dass wir dieses Gefühl schlecht aushalten können. Fast als wollte sie uns schützen, legt sich eine rasende Wut über die Ohnmacht. Wir sehen rot.
Ich fragte: „Was passierte dann? Wie fühlte sich das an?“
Herr V. schloss die Augen und spürte nach: „Eine Unruhe im ganzen Körper, wie ein Kribbeln. Und dann kam der Gedanke: Ich muss was tun. Da habe ich die Mail an den Vorstand geschrieben.“
Mir war der Vorfall schon bekannt, da der Vorstand mir eine Woche zuvor davon erzählt hatte. Ich wusste, dass es bei dem Auftrag um 10.000 € ging. Das ist zwar viel Geld, aber in Anbetracht der Tatsache, dass Herr V. ein 50 Mio. € Business verantwortet, tatsächlich „Peanuts“. Der Vorstand hatte im Übrigen entschieden, den Betrag 50:50 zwischen Herr V. und Herrn T. aufzuteilen.
Der tägliche Kleinkrieg auf der Chefetage
Interessant fand ich, dass nach wie vor Wut Herrn V. überrollte, wenn er nur an den Kollegen dachte. Blind vor Wut konnte Herr V. nicht erkennen, was eine weise Vorgehensweise gewesen wäre. Und dabei ist Herr V. ein intelligenter und sehr erfahrener Geschäftsmann. Sein Vorstand ist der Ansicht, Herr V. sei einer der kompetentesten aus dem Führungsteam. Dennoch lieferte sich Herr V., statt sich auf das Große und Ganze zu konzentrieren, einen Kleinkrieg mit einem Kollegen. So ist das, wenn uns unsere Emotionen kidnappen. Wir verhalten uns absurd, kontraproduktiv, anders als wir eigentlich sein wollen.
Ich habe viel über Führung und Emotionen gelernt, seitdem ich Kinder habe. Wie jedes Jahr war ich einige Wochen zuvor bei meiner besten Freundin zum Weihnachtsplätzchenbacken verabredet. Wir backen sehr leidenschaftlich und haben den Prozess über die Jahre bis ins letzte Detail optimiert. Der Teig wird separat vorbereitet und gekühlt, damit er die richtige Konsistenz hat, wenn es ans eigentliche Backen geht. Arbeitsplätze werden eingerichtet, die Kinder eingewiesen. Und so gelingt es uns, an einem Nachmittag vier Plätzchensorten in einer beeindruckenden Menge und Qualität herzustellen. Mit etwas Stolz behaupte ich, sollte mein Coachingbusiness doch irgendwann den Bach runtergehen, mache ich einfach eine Plätzchenmanufaktur auf. Ich bin mir sicher, die würde laufen.
Wut weckt den Diktator in uns
Eigentlich geht es bei dem Plätzchenbacken darum, gemeinsam eine Menge Spaß zu haben, ein Familienevent. Samuel, mein 19-jähriger Sohn, erklärte sich bereit zu fahren und so konnte ich beim Backen sogar ein Gläschen Prosecco zwitschern. Hach was ist das Leben schön! Die Zimtsterne waren schon eingetütet. Nun ging es an die Vanillekipferl. Ich habe sehr genaue Vorstellungen, wie Vanillekipferl auszusehen haben, also rollte ich einen Prototyp vor. Alle hielten sich genau an die Vorlage, bis auf Samuel. Er machte die Kipferl länger und dünner. Ich wies ihn darauf hin, dass das so nicht ginge. Unterschiedliche Kipferldicke erfordert unterschiedliche Backzeit. Samuel formte als nächstes statt eines Kipferls ein S für Samuel. Ich spürte einen Schlag in der Magengrube. Mein ansonsten so freundlicher und empathischer Sohn widersetzte sich mir! Vor den Augen anderer Menschen! Jetzt fühlte ich mich ohnmächtig. Und dann fing es an, in mir zu brodeln.
„Samuel, was soll das?“ mein Ton wurde scharf. Ich erklärte Samuel noch mal, warum es mir wichtig war, dass die Kipferl korrekt geformt würden. Er machte unbekümmert weiter und rollte mit dem Plätzchenteig ein Objekt in Ringform: „Schau mal, ein Donut!“ Alle außer mir fingen an zu lachen. Das Ganze schien aus den Fugen zu geraten. Ein Wut-Tsunami machte sich in mir auf den Weg. Ich hätte meinen Sohn schütteln können. Ist das nicht verrückt? Ich kann souverän und kompetent einen vermeintlichen Rassenkonflikt mit 100 Mitarbeitern in Südafrika moderieren. Aber ein Teenagersohn, der meinen Anweisungen beim Plätzchenbacken nicht folgt, bringt mich auf die Palme.
Worum geht es eigentlich?
„Mama, chill!“ meinte Samuel „Du bist grade so ein wenig zwanghaft.“ Ich fühlte mich ertappt und schien gleichzeitig aus einem Albtraum aufzuwachen. Was hatte mich da so wütend gemacht? Ich spürte noch das Ziehen im Bereich des Solarplexus, fast so als würde mir übel. Ich schaute meinen Sohn an und die lachenden Gesichter um mich herum. Worum ging es hier eigentlich? Wollten wir nicht einfach gemeinsam Spaß haben? Ich blickte 38 Kipferl, die in Reih und Glied auf den Backblechen lagen, an. Wer sagt eigentlich, dass die alle so gleichförmig sein müssen wie Soldaten in Uniform? Das ist ja grotesk: eine Plätzchenparade und ich als General mittendrin! Willkommen in der Vanillekipferl-Diktatur! Ich prustete los vor Lachen.
Man merkt, dass man Distanz zwischen sich und dem Wahnsinn in seinem Kopf schafft, wenn man über sich lachen kann. Das eigene Ego nicht so ernst nehmen hilft 100%. Deswegen sind mir Spaß und Humor auch bei der Arbeit mit meinen Kunden so wichtig. Ich erzählte Herrn V. von der Vanillekipferl-Diktatur und wir lachten herzlich.
Victims are violent people
Was hätte ich also an Herrn V.s Stelle getan? Ich empfehle: sich erst mal um den inneren Zustand kümmern. Merken, dass auf Ohnmacht oft Wut folgt. Byron Katie sagt „victims are violent people“. Wenn wir Ohnmacht spüren, können wir fast nicht anders, als (verbal) um uns schlagen. Stattdessen empfehle ich, die Aufmerksamkeit in den Körper zu bringen und das, was ich dort spüre, zu erlauben. Erstaunlicherweise würde es sich nach ein paar Momenten verändern. Ich würde mich weniger als Opfer fühlen, sondern handlungsfähig und klar. Dann würde ich mich fragen:
- Was will ich wirklich?
- Wie möchte sein? Und bin ich das gerade?
- Was ist wichtig? Und was nicht?
- Was muss ich tun? Muss ich grade überhaupt was tun?
- Was wäre eine weise Entscheidung?
Dann wüsste ich sehr schnell, was ich tun würde. Im Falle von Herrn V. vermutlich nicht viel. Ich würde den Auftrag laufen lassen. Vielleicht würde ich mich bei Herrn T. bedanken, dass er sich um den Kunden gekümmert und ihn zufriedengestellt hat. Vielleicht.
Was Herr V. tun soll, kann ich ihm nicht sagen und so verstehe ich auch nicht meine Rolle als Coach. Herr V. ist ein erfahrener Manager, der das Beste für sein Unternehmen möchte. Er kann weise Entscheidungen treffen. Ich kann ihm zeigen, kompetenter mit seinen Emotionen umzugehen. Und ich bin mir sicher, er wählt dann Kooperation statt Kleinkrieg und auf keinen Fall eine Vanillekipferl-Diktatur.