„Sagen Sie, was macht man eigentlich, wenn jemand weint?“ fragt letzthin Herr B. in einem meiner Seminare. Er hatte seine Kollegin gebeten, bei einer Aufgabe, die sie für ihn erledigen sollte, in einigen Punkten nachzubessern. Daraufhin sei die Kollegin laut geworden. Sie habe ihm vorgeworfen, man könne ihm sowieso nie etwas recht machen und dann in Tränen ausgebrochen. Herr B. berichtete, dass dies nicht das erste Mal gewesen sei. Daher habe er seine Kritikpunkte auch besonders vorsichtig formuliert. Er fühlte sich ob des erneuten emotionalen Ausbruchs seiner Kollegin ratlos.

Ein weinender Mensch lässt uns selten unberührt. Besonders ausgeprägt ist dies, wenn wir uns verantwortlich oder gar schuldig für dessen Tränen fühlen. Ich erinnere mich lebhaft an die Zeit, als unser Sohn im Kindergartenalter mit dem Haarewaschen seine liebe Not hatte. Dieses Wasser-Shampoo-Gemisch, das über den Kopf und vermeintlich in die Augen läuft! Über Wochen flossen, wenn das Baden anstand, zusätzlich zu dem Shampoo dicke Kindertränen. Das Haarewaschen selbst fand unter Jammern und Geschrei statt – und zwar auf beiden Seiten – Sohn und Mutter. Irgendwann sagte ich in Antizipation des abendlich bevorstehenden Kampfes im Badezimmer zu meinem Sohn: „Heute Abend werden die Haare gewaschen und zwar ohne Diskussion. Ich habe keine Lust mehr auf das Geschrei!“ Mein Sohn entgegnete darauf: „In Ordnung Mama, aber darf ich wenigstens leise weinen?“. Ich musste lachen und nahm erst mal meinen Sohn in den Arm. Abends wusch ich ihm die Haare. Er weinte nicht.

Ich habe viel über Führung gelernt, seitdem ich Kinder habe, z.B. über die Möglichkeiten und Grenzen dessen, was wir Motivation nennen, oder darüber, dass man einen Menschen gleichzeitig gernhaben und dennoch nein zu dessen Vorstellungen sagen kann. Nicht immer kann man die Erfahrungen aus der Kindererziehung 1:1 auf Führungssituationen übertragen. Schließlich begegnen sich im Führungsalltag Erwachsene. Zudem hat keiner den Auftrag, den anderen zu erziehen. In Bezug auf den Umgang mit Tränen, sehe ich jedoch Parallelen. Was soll also Herr B. tun, wenn seine Kollegin weint? Er ist einerseits der Überzeugung, sich professionell und richtig verhalten zu haben, indem er seine Kritik sachlich vortrug. Auch inhaltlich steht er nach wie vor zu dem, was er gesagt hat. Andererseits fühlt Herr B. sich schlecht und hilflos, wenn er sich seiner weinenden Kollegin gegenübersieht.

James R Doty, der Neurochirurg zeigt auf „das Nervengeflecht, das unser Herz umgibt, ist ein wesentlicher Bestandteil unseres Denkens und unseres Verstandes“. Es „existieren bei Weitem mehr Nervenverbindungen vom Herzen in Hirn als umgekehrt“. Das mag der Grund dafür sein, dass die Ratio sich gegenüber dem Gefühl so selten durchsetzt und wir immer wieder auf andere emotional reagieren. Etwas in uns kann einen traurigen Menschen nur schwer ignorieren. Man möchte sich ihm zuzuwenden, ihn trösten. Die Kollegin tröstend in den Arm nehmen, kann aber in Zeiten von „metoo“ für Herrn B. fatale Folgen haben. Man möchte ja nicht wegen sexueller Belästigung seinen Job verlieren. Also in Zukunft einfach die Kritik nicht äußern? Auch keine Option.

Szenenwechsel.

Das Thema Konflikt und Emotion führe ich in meinen Seminaren oft anhand einer fiktiven Szene einer Ehe vor Augen. Wir stellen uns vor, einer meiner Teilnehmer, letzte Woche war das Michael, und ich seien verheiratet. Wir hätten zu Beginn unsere Ehe folgende Regel etabliert: einmal pro Woche hat jeder einen freien Abend für sich. Ich gehe dabei gerne mit den Mädels shoppen (nur um so im Klischee zu bleiben) und Michael geht als leidenschaftlicher FC Bayern Fan am Wochenende ins Stadion. Letzten Samstag war Michael bei einem Kumpel und hat sich dort im Fernsehen das Auswärtsspiel gegen Dortmund angesehen. Nun ist aber diese Woche Champions League. Der FC Bayern hat heute am Mittwoch ein Heimspiel gegen Real Madrid – ein Klassiker. Das Stadion ist seit Wochen ausverkauft. Es ist unmöglich, an Karten zu gelangen. Aber ein anderer Seminarteilnehmer, Felix, konnte zwei Tickets ergattern. Felix fragt Michael, ob er nicht mit ihm ins Stadion gehen möchte. Michael weiß, dass seine Ehefrau sich auf den gemeinsamen Abend eingestellt hat. Dennoch möchte er zu dem Fußballspiel gehen. Es entwickelt sich folgender Dialog:

Michael: „Schaaahatz, Du weißt doch, heute ist Champions League. FC Bayern gegen Real Madrid und das Spiel ist eigentlich ausverkauft. Nun hat aber der Felix doch noch Tickets bekommen.“ Pause. „Ist das o.k., wenn ich heute Abend ins Stadion gehe?“

Ehefrau beißt die Lippen aufeinander und schweigt.

Michael: „Ich weiß, wir hatten eigentlich vereinbart, den Abend zusammen zu verbringen und ich war schon am Wochenende aus, aber das ist eine einmalige Gelegenheit. Bayern gegen Real!“

Ehefrau: nach einigem Zögern „Ja, wenn Du meinst.“ Schweigen. „Ich kann ja dann heute Abend Deine Hemden bügeln“. Schweigen. „Das macht ja sonst keiner, wenn ich es nicht tue.“

Die Seminarteilnehmer nehmen sofort wahr: hier herrscht dicke Luft. Einer witzelt: „Super, sie hat ja gesagt: Michael, geh schnell, bevor sie es sich anders überlegt!“ Ich bitte Michael, das Gespräch fortzusetzen. Er unterbreitet ein Angebot für ein gemeinsames Abendessen, am nächsten Tag. Die Ehefrau ist aber für dieses gut gemeinte Angebot nicht offen. Wir können rationale Fakten nicht verarbeiten, wenn wir emotional sind. Um es deutlicher auszudrücken: es ist sinnlos, jemanden zu füttern, der noch am Kotzen ist. Als Trainerin fordere ich Michael auf, dass er sich mit seiner Frau ausspricht.

Michael fährt also fort: „O.k. Schatz, was ist denn los?“

Ehefrau mit tränenerstickter Stimme: „Ich weiß ja, dass dir der Fußball wichtig ist“. Pause. „Und ich habe ja gar nicht wirklich, was dagegen, dass du gehst.“ Pause. „Nur, wir haben uns in letzte Zeit wirklich selten gesehen“. Pause. „Ich habe Angst, dass wir uns aus den Augen verlieren.“ Pause. „Manchmal habe ich echt Angst, dass wir unsere Ehe gegen die Wand fahren.“ Pause. „Manchmal weiß ich gar nicht mehr, ob du mich liebst!“

Es ist mucksmäuschenstill im Seminarraum.

Als Trainerin frage ich Michael: „Was würdest Du im realen Leben nun tun?“

Michael antwortet, „Ich würde auf das Fußballspiel verzichten.“

Diese Antwort geben  übrigens die meisten Seminarteilnehmer, die diese Übung mitgemacht haben. Auf die Frage: „Was fühlst Du?“ antwortet Michael: „ich habe ein schlechtes Gewissen“. Interessanterweise macht sich dies in Michaels Brustraum bemerkbar. Es fühlt sich eng an und schnürt ihm ein wenig die Luft ab. Er nimmt einen Kloß in seinem Hals wahr. Das Nervengeflecht um sein Herz scheint zu funktionieren.

Ich löse das Ganze auf „Michael, wir sind gar nicht verheiratet“. Es stellt sich spontane Erleichterung in der ganzen Seminargruppe ein. Felix fügt dem hinzu: „Und ich habe kein Ticket.“ Michael sieht erst Felix, dann mich verblüfft an. Es ist, als würde er aus einem Albtraum erwachen. Die Gruppe bricht in schallendes Gelächter aus. Alle sind wieder in der Realität angekommen. Wir sind 12 Menschen in einem Seminarraum, die über das Thema Konflikt und Emotionen sprechen. Es gibt kein Fußballspiel und keine Ehekrise. Das Ganze findet nur in unserer Phantasie statt. Und dennoch Michaels körperliche Reaktion fühlt sich ganz real an.

Erklärbar ist dies damit, dass unser Gehirn nicht gut darin ist, zwischen Realität und Phantasie zu unterscheiden. Deswegen gruseln wir uns, wenn wir einen Krimi anschauen. Das ist der Grund, warum es uns das Herz zerreißt, wenn Leonardo DiCaprio alias Jack im Hollywoodfilm Titanic zwischen den Eisschollen im Nordatlantik untergeht. Selbst wenn wir nicht im Kino sitzen, driftet unser Verstand immer wieder in Phantasien ab. Wir sehen in einem weinenden Menschen Leid, das wir schnell beenden wollen. In der Regel haben wir uns schon im Kindergartenalter irgendwo abgeguckt, wie das am besten geht. Ein weinender Mensch löst bei uns ein Ziehen in der Brust aus, das wir oft als schlechtes Gewissen oder Schuldgefühl interpretieren. Wer weiß, vielleicht ist es aber Mitgefühl oder Mitleid? Es ist ganz unabhängig davon, ein uraltes Gefühl, von dem wir oft nicht wissen, woher es kommt. Es verleitet aber unser Gehirn dazu, eine Prognose anzustellen, wie die Beziehung zu der Person, die „wegen uns“ weint, sich zukünftig gestalten wird. Das sieht nicht gut aus für ein Happy End, wenn wir nicht ganz schnell etwas unternehmen. Das Gehirn springt zwischen einer traurigen Vergangenheit und einer imaginären, wenig rosigen Zukunft hin und her. Aus diesem Zustand heraus, ist es schwer möglich, eine adäquate Lösung zu finden. Wenn wir etwas Distanz zu unserem Kopfkino hätten, würden wir erkennen, dass wir in unserem eigenen, alt bekannten Film sitzen statt in der Realität.

Das Gute ist, man kann den Kinosaal verlassen, wenn man bemerkt, dass man in einem sitzt. Man kann sich fragen, für welchen Film habe ich unbewusst ein Ticket gelöst. Möchten ich diesen Film wirklich sehen? Oder geht es mir dabei schlecht?

Herrn B. empfehle ich konkret: „Wenn jemand weint, nehmen Sie wahr, ob es Ihnen gerade schwer ums Herz wird. In diesem Fall atmen Sie durch. Nehmen Sie die Geschwindigkeit raus. Ihr Körper wird sich schon nach tiefen wenigen Atemzügen entspannen. Dadurch geben Sie den Signalen, die vom Gehirn gesendet werden, die Gelegenheit, dort anzukommen, wo Sie diese in zielführende Handlungen umwandeln können. Wenn Sie wieder klar sind, betrachten Sie Ihr Gegenüber. In welchem Film sitzt die Kollegin gerade? Ist sie enttäuscht, weil sie denkt, Ihren oder ihren eigenen Ansprüchen nicht zu genügen? Das schmerzt und Sie kennen das Gefühl vermutlich ganz gut von sich selbst. Auch die Kollegin benötigt etwas Zeit, bis das vorbeigeht. Diese sollten Sie ihr geben. Sie können sie fragen, ob sie kurz allein sein möchte. Da uns aber in der Regel die ruhige und liebevolle Präsenz eines anderen Menschen guttut, wenn wir traurig sind, wird es vermutlich in Ordnung sein, wenn Sie bleiben. Es kann hilfreich sein, ein Taschentuch zu reichen. Wenn Sie beide klar bleiben, können Sie über den Sachverhalt sprechen. Ohne Kopfkino, ganz real und vermutlich sogar ohne leises Weinen.“