„Sagen Sie, ist das Ihre junge Schwester auf dem Foto?“ fragt mich mein sehr geschätzter Kunde Herr Dr. S., als er mein Beraterprofil vor einiger Zeit in den Händen hält. Sein Blick pendelt ungläubig zwischen dem Foto und meinem Gesicht. „Nein, das bin ich.“ antworte ich schmunzelnd.
„Aber da haben Sie ja gar keine Sommersprossen.“ Verdutzung meinerseits. Ich habe definitiv keine Sommersprossen. „Ach, sind das Altersflecken?“, fragt der Doktor der Physik. In diesem Moment wird er sich gewahr, dass diese Bemerkung wenig schmeichelhaft bei mir ankommen könnte. Herr Dr. S. wirkt peinlich berührt. Ich bekomme einen Lachflash, denn ich bin ein Freund von Offenheit und Direktheit. So weit so gut.
Zugleich hing mir diese Situation nach. Ich fühlte mich ein wenig wie ein Hochstapler. Frau K. gibt vor, etwas zu sein, was sie nicht ist. Das ist ein mir nicht unbekanntes Gefühl. Wir Berater leiden ja ab und an unter dem sogenannten Hochstapler-Syndrom. Ständig stellen uns unsere Kunden Fragen, die für sie hochgradig relevant sind und manchmal wissen wir darauf die Antwort nicht. Denn die Fragen betreffen die Zukunft. Diese können selbst wir Berater nicht vorhersehen, auch wenn wir methodisch sauber die zur Verfügung stehenden Informationen analysieren und über einen umfangreichen Erfahrungsschatz verfügen. Tief in unserem Inneren regt sich dann bisweilen die Sorge, unsere exorbitanten Tagessätze nicht wert zu sein. Wir verbergen diese Unsicherheit manchmal hinter einem Schutzschild, welcher uns als Arroganz ausgelegt wird. Egal wieviel Fortbildungen wir machen, welche Bücher wir uns auf Langstreckenflügen oder am Wochenende reinziehen, so ein wenig tragen wir immer die Angst mit uns herum, dass wir eigentlich gar nichts können und es irgendwann sogar der Kunde merkt. So weit so bekannt. Neu war die Erfahrung, dass meine Hochstapelei bereits mit einem Blick auf das Foto auf meinem Beraterprofil offensichtlich ist.
Um Unklarheiten zu beseitigen: das Foto, um das es geht, war zwei Jahre alt. Es wurde von dem von mir sehr geschätzten Fotografen Cornelis Gollhardt aufgenommen, der viele Manager professionell ablichtet. Es handelt sich um die Arbeit eines Profis, bei der Photoshop nicht zum Einsatz kam.
Gerade überarbeite ich meine Homepage und nahm das zum Anlass, neue Fotos machen zu lassen. Auf den Fotos möchte ich sympathisch und professionell wirken. Ein potenzieller Coachee soll ja nicht Reißaus nehmen, wenn er mich sieht. Es sollten aber auch Fotos sein, die Kunden und mir peinliche Momente wie die mit Herrn Dr. S. ersparen. Dieses mal beauftragte ich Dirk Schilling mit der klaren Ansage: „Ich möchte NICHT besonders gut aussehen, sondern so, wie ich aussehe“.
Dirk machte aus meiner Sicht sehr professionelle Fotos, die ich zunächst meinem Mann und einer guten Freundin zum Qualitätscheck vorlegte. Feedback: „Wunderschön!“. Meine Reaktion: „Oh, NEEEEEIIIIN!“ Da ja der Gatte und die beste Freundin nie objektiv sind (aber wer ist das schon), habe ich ein paar Kunden und Kollegen um ein Feedback gebeten. Dieses ging von „Du bist eine schöne Frau, zeig das“ bis „als Beraterin darf man nicht zu schön sein.“ Ist das wahr? Als Beraterin darf man nicht zu schön sein?
Einer meiner Ausbilder, Erich Dihsmaier, war der Meinung: wir Berater haben heutzutage in Unternehmen die Rolle, die bei Urvölkern die Schamanen übernahmen. Wen fragte man früher um Rat, wenn es darum ging, mit lebensbedrohlichen (Natur-)ereignissen wie Kälteeinbrüchen oder Hitzeperioden umzugehen? Denjenigen, der diese überlebt hatte: den Ältesten. Das zeichnet den Schamanen aus: er hat die anderen überlebt. Man leitete daraus unbewusst ab, er müsse einen Trick haben, der das Überleben sichert. Die Antworten, welche Schamanen auf die Fragen, die ihnen gestellt wurden, lieferten, waren von unterschiedlicher Qualität. Die Methoden, die diese einsetzten, ebenfalls. Manche fanden ihre Problemlösungen, indem sie Hühnerknöchelchen warfen. Andere erkannten Muster und Regelmäßigkeiten in der Beobachtung der Natur. Die Parallelen zum Beraterberuf liegen auf der Hand. Man ruft uns häufig in Krisensituationen. Wir reduzieren dann idealerweise Komplexität und finden Lösungen für Probleme, manchmal mit sehr fragwürdigen Methoden, manchmal wissenschaftlich fundiert. Erich Dihsmaier betonte in seiner unnachahmlichen humorvollen Art: der Beraterberuf ist derjenigen, bei dem man automatisch mit jedem Jahr besser wird. Seine These: der Auftraggeber vermutet hinter jeder Falte und jedem grauen Haar Erfahrung und Kompetenz. Auf jeden Fall mehr als wenn ihm ein Jungspund gegenübersitzt. Ausnahmen bestätigen die Regel. Bei magischen Themen, die etwas mit digital oder 4.0 zu tun haben, fragen wir eher junge Menschen um Rat.
Seit neuestem scheint aber das Thema Schönheit bei Schamanen eine Rolle zu spielen, die ich noch nicht verstanden habe. Wir sollen neben der Kompetenz auch noch Schönheit mitbringen aber nicht zu viel. Wieviel darf es denn sein? Und wann ist es zu viel des Guten bzw. Schönen? Da Erich Dihsmaier im Jahr 2012 und damit viel zu früh verstorben ist, kann ich ihn leider nicht mehr zu diesem Thema befragen. So sitze ich hier und die Gedanken kreisen wie wild in meinem Kopf. Soll ich auf mein Beraterprofil und meine Homepage einfach kein Foto mehr packen? Frei nach dem Motto: „Ich habe leider kein Foto für Dich!“ Es gab ja mal diese Versuche, bei Bewerbungen die Bewerbungsfotos einfach wegzulassen. Was ist eigentlich daraus geworden? Oder soll ich einfach noch mal neue Fotos machen lassen? Vielleicht nochmal mit einem anderen Fotografen? Was ist, wenn die Fotos dann aber auch nicht gut ist? Wenn ich da nicht so aussehe, wie ich aussehe? Wird sich dann am Ende kein Coachee mehr für nicht entscheiden? Und was ist dann?
Wenn einer meiner Coachees sich mit einem ins Nichts führendes Gedankenkarussel herumschlägt, empfehle ich ihm, erst mal tief durchzuatmen. Im zweiten Schritt möge er sich die Frage stellen, ob er tatsächlich ein Problem hat. Unser Gehirn ist ein Problemlöse-Organ. Seine Aufgabe ist, es Gefahren zu erkennen und Mittel und Wege zu finden, diese aus dem Weg zu räumen. Wenn wir kein Problem haben, dann schafft unser sogenannter Verstand welche. Anscheinend hat auch er Angst vor der drohenden Arbeitslosigkeit. Es geht daher in die Vergangenheit und fängt an zu grübeln. Alternativ wandert er in die Zukunft und beschwört Horrorszenarien herauf. In meinem persönlichen Horrorszenario wohne ich unter einer Brücke und trinke lauwarmen Rotwein aus einem Tetrapak. Ich kann die klebrige Süße auf meiner Zunge schmecken. Gerade geht eine Rentner-Ehepaar an der Brücke vorbei. Er sieht Herrn Dr. S. erstaunlich ähnlich und zeigt mit den Fingern auf mich. Dann ruft er: „Das ist doch Frau Keromosemito, die Beraterin mit dem Hochstapler-Foto auf ihrem Beraterprofil!“ Sie schütteln beide ihre Köpfe.
Einem Coachee würde ich empfehlen, wieder in die Realität zurückzukehren. Diese ist: Frau sitzt vor dem Computer und tippt einen Text. Dabei lacht sie innerlich über die Gedanken, die man sich machen kann. Sie stellt sich vor, dass dieser Text dem ein oder anderen Leser ein Lächeln aufs Gesicht zaubert. Und sie hat definitiv kein Problem! 90% der Dramen in unserem Leben haben nie stattgefunden, außer in unserem Kopf.
Foto: Dirk Schilling