Was mach ich, wenn sich die Geschäftsführung ganz anders verhält, als das in unseren Unternehmenswerten steht?“ fragte letzthin Stefan, Führungskraft aus dem Handel auf einem meiner Seminare. Er wartete die Antwort nicht ab, sondern fuhr fort: „Wir reden in endlosen Meetings darüber, dass wir im Sinne der Mitarbeiter handeln sollen. Gute Mitarbeiter zu halten, ist in unserer Branche nicht einfach. Ich habe einen Mitarbeiter, der aus privaten Gründen an einen anderen Standort versetzt werden wollte. Hierfür habe ich eine Lösung erarbeitet, die sowohl für den Mitarbeiter als auch für das Unternehmen passt. Und jetzt stellt sich mein Geschäftsführer quer und sagt, wir können das nicht machen!“
Stefan ist normalerweise ein ruhiger und sachlicher Mensch. Jetzt aber redet er sich in Rage: „Ich meine, diese Chefs, die uns tolle Strategien erzählen und sagen, wie wir uns verhalten sollen und dann machen sie im nächsten Moment GENAU das Gegenteil. So ein Arsch. Gibt’s die bei Euch nicht?“ Stefan blickt fragend in die Runde. Andrea, HR-Managerin, pflichtet ihm bei: „Doch, doch! Die sind gleichmäßig verteilt in deutschen Unternehmen! Diese Ärsche!“ Die ganze Gruppe prustet laut los. Manche nicken bedeutungsschwanger.
Problem sind „die da oben“!
Ärger über „die da oben“ ist weit verbreitet. Woran liegt das? Werden Top-Führungspositionen generell nur an Ärsche vergeben? Das Gallup-Institut bestätigt in schöner Regelmäßigkeit in seinen Studien, dass die meisten Führungspositionen in den USA von Personen besetzt sind, die für einen Managerposten nicht geeignet sind. Das wiederum liegt laut Gallup daran, dass nur 10% der Menschheit überhaupt das Talent dafür hätten, ein Manager zu sein. Bei 20% könnte man durch Coaching und Training noch was reißen, aber für den Rest gibt es wenig Hoffnung.
Wenn ich dem, was meine Trainingsteilnehmer und Coachees so berichten, Glauben schenke, scheint dies kein amerikanisches Problem zu sein. Mit Kollegen und Mitarbeitern haben diese selten größere Schwierigkeiten. Problem sind „die da oben“.
Es gibt immer mehr als eine Wahrheit – und Vergangenheit ist vorbei
Eines habe ich jedoch in all den Jahren Training und Coaching gelernt: messe den Geschichten, die Dir erzählt werden, nicht allzu viel Bedeutung bei. Es gibt immer mehr als eine Wahrheit! Zudem sind diese Geschichten für die Weiterentwicklung eines Menschen meiner Erfahrung nach ohnehin wenig relevant. Manchmal behindern sie eher den Veränderungsprozess als dass sie ihn unterstützen. Stattdessen hilft es, die Vergangenheit als Vergangenheit zu behandeln. Ihre Natur ist: sie ist vorbei. Egal wie schrecklich oder wundervoll sie gewesen ist, sie ist vorbei. Wenn wir uns über etwas ärgern, ist es bereits vorbei:
- Die respektlose Art, mit der mich der Chef mehrfach unterbrochen hat: vorbei!
- Der Geschäftspartner, der den Termin zum 3. Mal absagt: vorbei!
- Der blöde Kommentar eines Kollegen in einer E-Mail: vorbei!
- Der überaus ärgerliche Fehler, der dem Mitarbeiter unterlaufen ist: vorbei!
- Die intelligente Antwort, die einem im Meeting nicht eingefallen ist: vorbei!
Was aber sehr reell und präsent ist, in dem Moment, wo wir diese Geschichten erzählen oder nur an sie denken, ist der Ärger, den diese in uns hervorrufen. Hinzukommt: wir können die Vergangenheit nicht ändern und das fuchst uns manchmal noch mehr. Als (ehemalige) Frau Kalaschnikova bin ich Expertin für Ärger und mir über eines sonnenklar:
Wer leidet, wenn ich mich ärgere? ICH!
Und das macht keinen Spaß. Ich lebe aber nach dem Prinzip: wenn es keinen Spaß macht, dann ändere es. Mein Leben ist mir zu kostbar, um es nicht zu genießen. Daher meditiere ich täglich. Aktuell mache ich mal wieder die „Ärger“-Serie auf der Meditations-App Headspace. In deren Einführung erläutert Andy Puddicombe:
- Wenn wir Ärger negativ bewerten, unterdrücken wir ihn oder setzen ihm Widerstand entgegen. Dadurch wächst er, statt zu verrauchen.
- Wenn wir den Ärger als begründet oder gar gerechtfertigt betrachten, steigern wir uns in diesen hinein und / oder agieren ihn aus.
Beschreibt er nicht treffend unseren üblichen Umgang mit den großen und kleinen Ärgernissen?
- Wir reißen uns zusammen, da wir professionell sein wollen. Wir drücken den Ärger in den Keller und dort geht er in den Kraftraum. Die Situation ist lange vorbei, aber wir nehmen den Ärger vom Büro mit auf den Nachhauseweg. Wir bringen ihn zu unseren Lieben daheim. Er lässt uns manchmal schlecht schlafen und ist das erste, was uns küsst, wenn wir nach einer üblen Nacht langsam die Augen öffnen. Und WER LEIDET?
- Wir erklären anderen, warum wir uns zurecht ärgern. Der Andere hat sich einfach unmöglich benommen, der Arsch! Eine Teilnehmerin nannte den Zustand, in dem sie sich dann befindet, heilige Wut. WER LEIDET in diesem Fall? Mit dieser Wut schlagen wir in unseren wilden Träumen anderen die Köpfe ab. In der Realität wagen wir es in der Regel jedoch nicht, denen „da oben“ gegenüber unserem Ärger Ausdruck zu verleihen, sondern schlucken ihn und landen wieder bei 1.
Merke: Ärger ist eine 1a Leidensmaschine, also etwas für Leute, die Spaß am Leben für überbewertet halten. Ich gehöre nicht dazu!
Gegen den Ärger hilft: Geschwindigkeit raus!
Was tun? Andy erklärt, man könnte, statt den Ärger zu bewerten, ihn als Energie betrachten. Diese kann man für sich nutzen und in aktives Handeln überführen. Dazu ist es aber notwendig, dass man etwas Distanz zwischen sich und dem Ärger schafft, sonst überrollt er einen. Tipp hierfür: GESCHWINDIGKEIT RAUS!
Im Seminar simulieren wir das Gespräch, in welchem Stefan mit seinem Geschäftsführer (dem Arsch) versucht, eine Klärung für den Einsatz des Mitarbeiters herbeizuführen. Hierzu setze ich Stefan einen anderen Teilnehmer, Thomas, gegenüber, der für ihn den Geschäftsführer repräsentiert.
Stefan ist immer noch aufgebracht, beginnt das Gespräch aber sachlich.
Thomas entgegnet: „Der Mitarbeiter ist aber an dem Standort gut eingesetzt. Außerdem sind wir hier nicht bei Wünsch-dir-was!“
Stefan wiederholt mit zunehmender Sprechgeschwindigkeit die Beweggründe seiner Entscheidung. Blitzschnell reiht er Argument an Argument. Thomas will seinerseits ausholen. Hier unterbricht Stefan ihn und sagt: „Mit Fairness und Vertrauen (die Unternehmenswerte, Anmerkung der Redaktion) hat das hier aber nicht grade viel zu tun“.
GESCHWINIDIGKEIT RAUS!
Ich unterbreche die Simulation und frage Stefan, ob das Gespräch in der Realität auch so laufen würde. Stefan nickt und meint: „Der macht das gut, der Thomas. Genauso arschig ist mein Geschäftsführer!“
Ich: „Wie geht es dir grade, Stefan?“
Stefan: „Ich bin stocksauer!“ und wirft einen wutentbrannten Blick auf Thomas.
Ich: „WER LEIDET???“
Zynismus und Sarkasmus = maskierter Ärger
Da ist er, der geschluckte Ärger. Er findet genau wie Wasser seinen Weg in das Gespräch. Wenn man sich in einer Meditation diesem Ärger zuwendet, fließen nicht selten ein paar Tränen. Das ist anfangs befremdlich, aber eine sehr wirkungsvolle Methode, um Dampf abzulassen. Darin sind wir ungeübt, stattdessen drücken wir den Ärger weg und transformieren ihn in sarkastische Bemerkungen. Zynismus und Sarkasmus sind, wie Brené Brown in „Dare to Lead“ darstellt, maskierter Ärger. Wir schicken diese als emotionalen Versuchsballon los und schauen was passiert. Wenn es nicht gut läuft für uns, können wir immer noch tun, als hätten wir einen Witz gemacht und haben zugleich den anderen dabei schlecht aussehen lassen. 1:0 für uns, glauben wir. Gleichzeitig haben wir mit der zynischen Bemerkung die Beziehung vergiftet. Auch wenn wir für den Moment einen vermeintlichen Sieg erringen, langfristig belastet es das Miteinander und macht eine zukünftige, konstruktive Zusammenarbeit nicht leichter. Blöd, wenn man in derselben Firma arbeitet und der Job darin besteht, gemeinsam Lösungen zu erarbeiten.
Außer GESCHWINDIGKEIT RAUS, könnte es nun hilfreich sein, sich zu vergegenwärtigen, dass der andere kein Arsch ist. Er ist ein Mensch, der eine andere Meinung hat als ich und genau wie ich Sorgen und Ängste. Eine Frage, die für mich dabei gut funktioniert, ist: „Was ist Deine Sorge?“
Der andere hat erst mal nur ’ne andere Meinung
Diese lege ich Stefan in den Mund: „Was ist Deine Sorge, Thomas, wenn wir den Mitarbeiter versetzen?“ Thomas antwortet: „Dass daraus dann ein Flächenbrand wird und jeder das möchte!“
Stefan setzt an, dagegen zu argumentieren.
GESCHWINDIGKEIT RAUS!
Ich unterbreche ihn und frage: „Kannst Du verstehen, dass wenn Thomas diese Sorge hat, dass er sich dann gegen den Vorschlag wehrt?“
Stefan antwortet: „Ja klar!“
Ich: „Und kannst Du ihm das sagen? Und frag ihn, ob es noch weitere Sorgen gibt, die ihn mit dieser Versetzung plagen!“
Stefan folgt dem Ratschlag und es kommen eine ganze Menge von Thomas‘ Sorgen und Bedenken zum Vorschein. Viele davon kann Stefan entkräften und ist schon fast am Ziel, was die Versetzung des Mitarbeiters angeht. Dann erklärt Thomas aber, dass er sich massiv darüber geärgert hat, dass Stefan, ohne ihn zu informieren, einfach Fakten geschaffen hat. Stefan fühlt sich kritisiert und fängt an seine Vorgehensweise zu rechtfertigen. Auch hier bremse ich ihn wieder.
Verständnis reduziert das eigene Leiden
Ich: „WER LEIDET?“
Stefan: „Ich!“
Ich: „Ist es Dir schon mal passiert, dass Du erst im Nachhinein von einer Entscheidung erfahren hast?“
Stefan: „Ja klar!“
Ich: „Und hat dich das geärgert?“
Stefan: „Ja klar“
Ich schaue ihn treuherzig an und frage ihn: „Stefan, bist du ein Arsch?“
Wir lachen.
Stefan sagt: „Kann ich nachvollziehen, Thomas, und ich stehe nach wie vor zu meiner Lösung!“
Thomas fällt es schwer, sich weiterhin „arschig“ zu verhalten und bittet sich Bedenkzeit aus.
Tägliches Üben – gemeinsames Lernen
Obwohl ich seit vielen Jahren Achtsamkeit praktiziere und meditiere, ärgere ich mich nach wie vor und zwar täglich. Ich übe mich jedoch darin, den Ärger loszulassen und die Vergangenheit als Vergangenes zu behandeln. Die verbleibende Energie nutze ich dann, um in der Sache voran zu kommen. Weder meinen Kunden noch mir gelingt dies immer. Wir entwickeln jedoch mehr Verständnis dafür, wie es zu kuriosen Ereignissen auf den deutschen Chefetagen kommt und was unser Beitrag dazu ist. Statt zu schimpfen entwickeln wir Pläne und Strategien, was man von heute an besser machen kann. Anstelle von zynischen Bemerkungen üben wir uns in klarer und zugleich freundlicher Kommunikation. Funktioniert nicht immer, aber zumindest werden wir besser darin, uns selbst nicht mehr ganz so wichtig zu nehmen. Wir lachen und haben Spaß, statt uns lange zu ärgern. Dabei vermenschlicht sich der ein oder andere Arsch und eliminiert sich dadurch quasi von selbst. Magisch!
P.S.: Ich legte „Stefan“ den Artikel vor, bevor ich ihn online stellte. Er meinte, inzwischen habe er die Unterstützung von „Thomas“. Dies läge aber vor allem daran, dass er sich auf das Gespräch mit ihm gut vorbereitet habe und ruhig geblieben sei. Vielleicht ist das seine Art, Ärger in Aktion umzuwandeln. Was auch immer es war, wir hatten beim Erarbeiten Spaß. Und zwar eine ganze Menge!