„Welches Thema sollte ich Deiner Meinung nach als nächstes angehen?“ fragte letzthin mein Coachee Alex zu Beginn unseres gemeinsamen Termins. Alex hat seit vier Jahren eine Führungsposition in einem mittelständischen Unternehmen inne. In dieser Zeit hat sie einige berufliche Herausforderungen exzellent gemeistert. Sie hat ihr Team neu aufgestellt, Konzepte erfolgreich implementiert und eine äußerst anspruchsvolle Rolle in einem gerade abgeschlossenem Transformationsprojekt übernommen.
Meine Empfehlung wäre, erst mal durchzuatmen und zu genießen, dass der Betrieb aktuell störungsfrei läuft. Aber Alex strebte nach der nächsten Herausforderung. Von einer Baustelle zur nächsten. Nicht ungewöhnlich für meine leistungsorientierten Coachees. Wir werden besser in dem, was wir üben. In unserem Termin schlug ich Alex vor, erst mal die Geschwindigkeit rauszunehmen und vom Denken ins Spüren zu gehen. So kann man besser verstehen, was gerade los ist.
„Ich muss gut arbeiten!“
Alex schloss die Augen und ging in sich. Sie saß sehr aufrecht und drückte ihren Rücken durch. Ihre Körperhaltung erinnerte mich ein wenig an eine Hab-Acht-Stellung, an einen kampfbereiten Soldaten. Dabei sind die Stühle in meinem Coachingraum eigentlich gut geeignet, um eine entspannte Sitzhaltung einzunehmen. In der Tat habe ich, als ich 2015 das Büro eingerichtet habe, auf vielen Stühlen probegesessen, um ein Modell zu finden, auf dem meine Coachees bequem durchatmen können.
„Was spürst du?“ fragte ich Alex
„Anspannung im Rücken und Tatendrang.“ erläuterte Alex.
„Welche Gedanken gehen damit einher?“ fragte ich.
„Ich muss gut arbeiten!“ kam wie aus der Pistole geschossen.
Gekidnappt von den eigenen Glaubensätzen
Ich werde immer hellhörig, wenn Menschen ihre Sätze mit „ich muss“ beginnen. Sätze, die mit „ich muss“ anfangen, haben wir oft in der Kindheit oder Jugend erlernt und prägen uns ein Leben lang.
Diese Sätze, in der Transaktionsanalyse Glaubenssätze oder auch Antreiber genannt, sind hervorragende Motivatoren, wenn es darum geht, Leistung zu erbringen oder Durststrecken zu überstehen. Kein Wunder, dass sie mir in der Arbeit mit Führungskräften oft begegnen. Klassiker sind dabei
- „Ich muss hart arbeiten.“
- „Ich muss mich anstrengen.“
- „Ich muss das zu Ende bringen.“
- „Ich muss das schaffen.“
Diese Glaubenssätze können sich aber auch verselbständigen und uns kidnappen. Wir tun dann etwas, weil wir glauben zu müssen, ohne uns dessen bewusst zu sein und ohne zu verstehen warum. Dann bringen sie uns um den Erfolg, den Schlaf oder (temporär) um den Verstand. Nicht umsonst gibt es im High Performancebereich eine hohe Anzahl an depressiven Menschen. Eine Stimme sitzt ihnen im Nacken und flüstert ihnen ein: „ich muss…“.
Eine gestandene Führungskraft – ohne Stuhl
Ich: „Wie alt ist dieses: „Ich muss gut arbeiten?““
Alex: „Oh mein Gott. Du wirst lachen. Gerade kommt eine uralte Geschichte in mir hoch. Soll ich die erzählen?“
Ich: „Leg los!“ Ich gestehe, ich liebe diesen Teil meiner Arbeit.
Alex: „Meinen ersten Schülerjob hatte ich in der Produktion. Wir standen den ganzen Tag am Band und packten Schachteln. Das fand ich unglaublich hart. Ich dachte jeden Morgen vor der Arbeit: Noch mal einen ganzen Tag auf den Beinen stehe ich nicht durch. In der Produktion gab es so eine alte Frau (vermutlich war diese jünger als ich heute, Anmerkung der Autorin), die schlurfte immer so langsam umher. Mir wurde klar, wenn ich in der Schule nicht gut arbeite, dann ende ich wie diese Frau. Nach den Ferien habe ich mich dann am Riemen gerissen, fleißig gelernt und ein gutes Abitur gemacht. Immer das Ziel vor Augen: Einen Job zu bekommen, bei dem ich nicht stehen muss.“
Ich fragte mich in dem Moment, woher eigentlich der Ausdruck „gestandene Führungskraft“ kommt. Und haben alle Chefs, die an ihrem Stuhl kleben, früher mal in der Produktion geschuftet? Focus, Lara, focus.
Vergangenheit loslassen – auf dem Chefsessel ankommen
„Hat das denn geklappt mit dem Stuhl?“ fragte ich etwas amüsiert.
Alex riss ihre Augen auf. „Wie meinst du das?“, fragte sie irritiert.
Ich: „Was für einen Stuhl hast Du denn in Deinem Büro?“
Alex: „Einen sehr bequemen. “
Ich: „Aha!“
Alex prustete los vor Lachen. Sie hatte verstanden. Erleuchtung ist, wenn Du verstanden hast, Vergangenheit ist vorbei. Und manchmal fühlt sich das großartig und befreiend an. „Auf dem Chefsessel ankommen“, nahm auf einmal eine komplett neue Dimension ein. Wir lachten und alberten eine ganze Weile. Aber Spaß beiseite.
Ich: „Was musst du wirklich in Deinem Leben?“
Alex: „Sterben!“
Ich: „Es gibt diverse Religionsgemeinschaften, die das nicht unterschreiben würden.“
Alex: „Atmen!“
Ich: „Du kannst Dich immer entscheiden, die Luft anzuhalten. Es hat halt nur so unangenehme Konsequenzen, wenn Du auf der Entscheidung bestehst. Ich kann es daher nicht empfehlen. Was MUSST Du wirklich?“
Motivation vs. Inspiration
Wie wäre es, sich zu fragen: „Was WILL ich?“ statt „Was MUSS ich?“ oder „Was erscheint mir sinnvoll?“ Hilfreich kann es sein, sich mit der eigenen Motivation und Inspiration auseinanderzusetzen. Matt Griggs hat letzthin erklärt, was für ihn der Unterschied zwischen den beiden ist:
- Motivation hat etwas mit der Außenwelt zu tun, dem Streben nach einem Ziel z.B. nach einem Posten, manchmal symbolisiert durch ein Eckbüro oder eben einen Stuhl. Wenn wir dies erreichen, macht und dies vorübergehend zufrieden.
- Inspiration hat mit der inneren Welt zu tun, mit dem, wie ich bin oder wie ich sein möchte. Wenn man sich daran orientiert, führt dies zu einem Zustand längerer Erfüllung.
Im Idealfall kann man bei dem, was man tut, beides miteinander verknüpfen.
Diese Überlegung gab ich Alex am Ende des Termins mit auf dem Weg. Sie verließ sichtlich entspannter und zufriedener mein Büro. Und ist es nicht das, was sich viele Mitarbeiter sehnlichst wünschen? Einen Chef, der über sich herzlich lachen kann und entspannt bleibt, auch, wenn es im Unternehmen turbulent zugeht?
Wenige Tage nach unserem Termin ging Alex in einen mehrwöchigen Urlaub. Wie ich sie kenne, wird sie sich während ihres Urlaubs bewusst oder unbewusst mit ihrer Motivation und Inspiration auseinandersetzen. Sie wird dann wissen, welches Thema sie als nächstes angehen möchte. Und ich bin mir sicher, sie wird nach ihrer Rückkehr ihren bequemen Bürostuhl richtig zu schätzen wissen.