„Frau Keromosemito, wie kann ich mich am besten auf ein Assessment-Center vorbereiten?“ wurde ich schon viele Male gefragt. Ich beantworte diese Frage in der Regel nicht. Zum einen, da ich der Überzeugung bin, dass eine Vorbereitung nicht viel bringt.
Zum anderen, weil manche Unternehmen sehr merkwürdige Sachen machen, die sie Bewerbern als Assessment Center verkaufen. Mir wurde berichtet, dass früher Teilnehmer nachts geweckt wurden, um ihre Einsatzbereitschaft zu messen und dass Hummer serviert wurde, um herauszufinden, ob Kandidaten auch diesen adäquat verspeisen können. Ich persönlich habe das nie erlebt. Vielleicht war dies aber auch vor meiner Zeit, so 1952? Vor ein paar Jahren habe ich mich von dem Thema Assessment Center verabschiedet. Daher habe ich keine Ahnung, wie diese heutzutage aussehen. Vielleicht gibt es Poke Bowls statt Hummer?
Was aber in schöner Regelmäßigkeit in Interviews – ob nun als Bestandteil eines ACs oder unabhängig davon – auftaucht, ist die wenig originelle Frage „Was sind Ihre Schwächen?“ Diese finde ich im Übrigen noch weniger interessant als den Hummertest. Es kommt nämlich immer dasselbe Ergebnis heraus: 1. Ungeduld. 2. Perfektionismus.
Aus diagnostischer Sicht ist diese Frage also vollkommen sinnlos. Der Sinn von Tests oder Interviewfragen, ist ja, dass sie zwischen gut und weniger gut geeigneten Bewerbern differenzieren. Soll heißen, man möchte die Spreu vom Weizen trennen. Wenn aber alle dasselbe antworten, macht die Frage keinen Unterschied zwischen den Kandidaten.
Warum aber beantworten alle diese Frage mit Ungeduld? Lange war ich der Überzeugung, (angehende) Manager geben diese uniforme Antwort, weil diese besonders sozial erwünscht ist. Wenn ich ungeduldig bin, heißt das ja im Umkehrschluss, die anderen sind zu langsam und oder zu blöd. Das fällt dann weniger negativ auf mich zurück. Mit der eigenen Ungeduld umgehen zu lernen, gehört aber zu den Top 3 Zielsetzungen, die Führungskräfte bei mir im Coaching anstreben. Es ist für viele ein echtes Thema und nicht nur eine Phrase.
So auch für Herrn G., Leiter des Engineerings in einem Industriekonzern. Er berichtet: „Wir haben in mehr als einem halben Dutzend Workshops die Aufgaben unseres Bereiches neu definiert. Alle wurden involviert. Wir haben uns auch darauf geeinigt, welche Leistungen wir mit unserer eingeschränkten Manpower nicht mehr anbieten. Gestern bekomme ich durch Zufall mit, wie Herr P., der sich immer am lautesten beschwert, er habe zu viel zu tun, gegen unsere Abmachung für einen Kollegen aus einem anderen Bereich eine Statikberechnung durchführt. Als ich ihn frage, warum er das tut, antwortet er: „Das dauert doch nicht lange“. Da reißt mir einfach der Geduldsfaden!“
Ich bitte Herrn G. die Augen zu schließen, sich nochmals gedanklich in die Situation zu versetzen und frage ihn: „Was haben Sie denn in diesem Moment über den Mitarbeiter gedacht?“
Herr G.: „Vollpfosten!“
Ich: „Wenn Sie Vollpfosten denken, welche Emotion taucht dann auf?“
Herr G.: „Ungeduld. Ärger. Wut. Ich könnte Herrn P. schütteln!“
Ich: „Aus diesen Zustand heraus, was würden Sie am liebsten mit Herrn P. tun?“
Herr G.: „Ihn rausschmeißen!“
Nur fürs Protokoll: bei Herrn P. handelt es sich um einen sehr kompetenten und engagierten Mitarbeiter aus dem Team von Herrn G. Wie kann es sein, dass Herr G. in dem Moment sich am liebsten von Herrn P. trennen möchte?
Aus biologischer Sicht ist hierfür der Neurotransmitter Dopamin entscheidend. Dopamin wird ausgeschüttet, wenn uns etwas gelingt, wenn wir Erfolge haben. Wir erleben dann so etwas wie Stolz, Freude oder ein Glücksgefühl, das Euphorie sehr nahekommen kann. Weil sich das so gut anfühlt, möchte man mehr davon. Wir werden süchtig danach. Es funktioniert wie eine Droge. Wir benötigen im Laufe der Zeit immer größere Erfolge, damit die Dopaminausschüttung erfolgt und sich das Glücksgefühl wieder einstellt. Die Neuropsychologin Friederike Fabritius beschreibt dies in ihrem überaus lesenswerten Buch „The Leading brain“. Als Ex-Mc Kinsey Beraterin erläutert sie, dass genau aus diesem Grund auch jedes Jahr die Boni steigen müssen, sonst ist der Mitarbeiter nicht mehr glücklich. Sollten Sie nicht zu denjenigen gehören, die sich jedes Jahr über einen höheren Bonus freuen dürfen, kennen Sie diesen Wunsch nach „Mehr“ jedoch auch sehr gut. Ständig kaufen wir uns neue Autos, Schuhe oder Smartphones, obwohl die alten noch vollkommen funktionsfähig sind. Haben wir uns über unser erstes Klapphandy noch viele Wochen gefreut, so währt das Glücksgefühl bei Smartphone Nummer drei deutlich kürzer. Unser Wirtschaftssystem basiert darauf, dass wir uns über Konsum tagtäglich einen Kick geben.
Die Sucht nach diesem guten Gefühl äußert sich auch darin, dass wir uns immer wieder neuen Herausforderungen stellen, dass wir stunden-, wochen- oder jahrelang tüfteln, um eine Lösung für ein Problem zu finden. Wir verbeißen uns in Aufgaben. Nach dem Projekt ist vor dem Projekt. Das nächste wird bestimmt anspruchsvoller, größer oder in kürzerer Zeit abgewickelt. Wir legen wir die Messlatte immer höher, hetzen von Erfolg zu Erfolg, ohne dass sich echte Zufriedenheit einstellt. Deswegen begegnen mir in meinen Coachings Menschen in Toppositionen mit sehr guten Gehältern, die vieles erreicht haben und dennoch unglücklicher sind als ein Berufsanfänger. Sie brauchen ihren Schuss Erfolg.
Wenn wir diesen nicht bekommen, werden wir übel gelaunt und gereizt. Wir sind auf Entzug. Das Schlimmste ist, wenn jemand bei unserer Jagd nach dem Kick nicht so mitzieht, wie wir das möchten. Dann sehen wir in ihm einen Gegner, einen Feind, ein Problem, ein Hindernis. Führungskräfte sind sehr kreativ darin, mit welchen Bezeichnungen sie dann ihre Mitarbeiter belegen: Low Performer, Leistungsverweigerer oder eben Vollpfosten. Damit geht stets dasselbe Gemisch an Emotionen einher: Zunächst stellt sich ein ungutes Gefühl ein, wenn wir auf dem Weg zum Erfolg nicht weiterkommen. Dieses Gefühl erleben wir als Ungeduld. Wenn sich der Andere weiterhin nicht gemäß unserer Vorstellung verhält, denken wir: „Vollpfosten“. Aus Ungeduld wird dann Ärger. Haben wir nur lange genug „Vollpfosten“ gedacht, transformiert sich der Ärger in Wut. Und wenn wir uns lange genug in unserer Konzernkarriere eingeredet haben, dass wir nur „Vollpfosten“ umgeben sind, dann werden wir ohnmächtig. Ungeduld, Ärger, Wut, manchmal verfeinert mit einem Schuss Ohnmacht. Die Zusammensetzung ist immer identisch. Fast so wie ein klassischer Cocktail.
„Einen Vollpfosten bitte!“
„Geschüttelt oder gerührt?“
„Egal, aber bringen Sie einen Doppelten!“
Frei nach dem Motto, wenn ich schon nicht glücklich sein darf, dann darf ich wenigstens saufen. Wir ziehen uns diesen Cocktail immer wieder rein, wissend, dass der Kater, den er beschert, einer von der ganz üblen Sorte ist.
Wie können wir aus diesem Rausch aussteigen? Der Neurowissenschaftler Sam Harris betont in seinem Buch Waking up: „Wenn wir unseren Ärger nicht kontinuierlich wiederbeleben würden, wäre es uns unmöglich, länger als wenige Momente verärgert zu sein“. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den Ärger zu beenden.
So könnten Sie sich z.B. ablenken, indem Sie froggen. Kennen Sie nicht? FROG steht für Firmen-Rundgang Ohne Grund. Einfach mal raus aus dem Büro, sich die Beine vertreten und frische Luft schnappen. Ist nicht effizient? Ärger in sich reinzufressen, diesen dann auf dem Nachhauseweg übers Gaspedal rauszulassen und in eine Radarfalle zu rauschen, ist auch nicht der Bringer. Auch den Mitarbeiter zur Schnecke zu machen, bringt weder Sie Ihrem Erfolg näher, noch hebt es die Motivation im Team. Dann doch lieber schnuppern, ob es draußen schon nach Frühling riecht. Ein Kunde von mir hat vor kurzem eine hypermoderne Firmenzentrale gebaut, die, aktuellen Trends folgend, Campus genannt wurde. Hier geht man seit einiger Zeit Croggen, wenn der Ärger kommt. Also Campus-Rundgang Ohne Grund.
Nun können Sie aber nicht jedes Mal aus dem Meeting stürmen, wenn in Ihnen Ungeduld aufglimmt. Es kann auch reichen, dass Sie Ihre Sitzposition auf dem Stuhl verändern. Bringen Sie die Füße auf den Boden, spüren Sie in Ihren Körper und vergegenwärtigen Sie sich, dass Sie von Kollegen umgeben sind. Diese haben eine andere Meinung als Sie und verhalten sich aus Ihrer Sicht, sagen wir, unerwartet. Es sind deswegen aber keine Gegner, Feinde oder Vollpfosten, auch wenn es sich so anfühlt. Atmen Sie tief durch und vielleicht gehen Sie nach dem Meeting eine Runde froggen.
Herr G. hat für sich eine eigene Strategie entwickelt, um mit seiner Ungeduld umzugehen: Jedes Mal, wenn er „Vollpfosten“ denkt, stellt er sich vor, da steht eine zwielichtige Gestalt am Tresen und bietet ihnen ein Cocktail an. Er weiß, dass es sich um K.O.-Tropfen handelt. Herr G. winkt ab: „Danke ich möchte nicht“. Seitdem ist er deutlich ruhiger geworden. Das bestätigt auch seine Frau.
Was würde Herr G. heute antworten, wenn man ihn fragt, was seine Schwäche ist? „Ich habe eine Schwäche für Vollpfosten on the Rocks und Hummer?“ Kann ich nicht empfehlen. Ich rate nach wie vor zu „Ungeduld und Perfektionismus“. Damit ist er bestens vorbereitet.