„Möchte jemand eine Vorstellungsrunde machen?“ Diese Frage wird nicht gestellt zu Beginn eines Workshops oder Seminars. Die Vorstellungsrunde scheint ein unabdingbares Muss zu sein bei Veranstaltungen. Am Anfang kommt die Vorstellungsrunde. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.

Praktisch sieht das so aus: Teilnehmer 1 nennt seinen Namen, sagt, was er im Unternehmen macht und was er von der Veranstaltung erwartet. Teilnehmer 2 führt das fort. Teilnehmer 3 sagt im Hinblick auf die Erwartungen: „Es ist schwer etwas neues hinzufügen.“ oder „Ich schließe mich meinen Vorrednern an“. Spätestens wenn Teilnehmer 5 an der Reihe ist, sind alle anderen Menschen im Raum eingeschlafen, und zwar auf die professionelle Art und Weise.

Einer redet und keiner hört zu – darin sind wir Profis

Dieses Verhalten haben wir schon in der Schule geübt. Wir haben verstanden: wenn die Lehrerin bei Klaus die Vokabeln abfragt, kommt kein anderer Schüler dran, vorausgesetzt, man tut so, als würde man zuhören. Wir können alle hervorragend schlafen mit geöffneten Augen. Dabei schauen wir interessiert und haben doch geistig ausgecheckt. Wir werden besser in den Dingen, die wir üben.

Heutzutage im Workshop: Einer sagt, wie er heißt und was er erwartet. Beides ist ihm normalerweise bekannt. Er erfährt nichts substanziell Neues während er spricht. Diejenigen, denen diese Information neu sein könnten, hören aber nicht zu, denn sie sind geistig nicht präsent. Das wiederholt sich 6 oder 16 Mal, je nach Gruppengröße. Was für eine sinnlose Verschwendung wertvoller Lebenszeit. Daher erkläre ich seit vielen Jahre zu Beginn jeder Veranstaltung: „Ich mache keine Vorstellungsrunde und auch keine Erwartungsabfrage, oder möchte jemand aus der Gruppe das?“ Da die letzten 10 Jahren niemals nur eine Person diese Frage mit „Ja“ beantwortet hat, spare ich mir auch diese seit einiger Zeit. Ich mag Effizienz. Es schien mir eine gute Idee – bis vor kurzem.

Eigene Vorgehensweisen hinterfragen – normal!

Vor ein paar Wochen moderierte ich einen Workshop mit dem Geschäftsführungsteam eines Industrieunternehmens. Es ging um das Onboarding eines neuen Geschäftsführer-Kollegens. Ein Onboarding auf der Ebene ist eine spannende Angelegenheit. Die Erwartungen an den Manager sind hoch, die Gehaltssprünge oftmals auch. Viele Manager überlegen sich dennoch sehr gut, ob sie ihren aktuellen Posten für einen anderen aufgeben und sich auf ein neues Risiko einlassen sollen. Scheitern ist in dieser Flughöhe immer mit einem tiefen Fall verbunden. Viele Manager lassen sich daher in ihre Verträge schreiben, dass ihr Gehalt auch dann für einen längeren Zeitraum weiterbezahlt wird, wenn sie vorzeitig ihren Hut nehmen müssen. Dadurch wird ein Misserfolg beim Onboarden eines Top-Managers für das Unternehmen eine kostspielige Angelegenheit. So ein Workshop will also gut vorbereitet sein. Ich führte mit jedem der Herren ein Einzelgespräch im Vorfeld, schickte ihnen einige Wochen vor dem Termin das darauf aufbauende Konzept. Es gab ein paar Änderungswünsche, die ich nach bestem Wissen und Gewissen einbaute. Läuft!

Nicht! Der Workshop lief so làlà. Zwar gab es im Nachgang positives Feedback, jedoch auch einige Kritikpunkte an meiner Arbeitsweise. All dies wurde mir freundlicherweise vom Auftraggeber per Mail zurückgemeldet. Ich nahm jeden Kritikpunkt ernst und setzte mich damit professionell auseinander. Es gehört zu meinem Verständnis als Beraterin, eigene Vorgehensweisen immer wieder zu hinterfragen. Normal! Dennoch, bei einem Punkt platzte mir innerlich die Hutschnur.

Was erlauben?

Ein sicherlich konstruktiv gemeinter Vorschlag lautete: eine Erwartungsabfrage hätte geholfen, den Tag in eine andere Richtung zu lenken.

  • EINE ERWARTUNGSABFRAGE!
  • Der will MIR, die ICH seit 25 Jahren Workshops mache, erklären, dass ich eine ERWARTUNGSABFRAGE hätte machen sollen!
  • Was denkt der, habe ich in den Vorgesprächen zu dem Workshop gemacht?
  • Was für ein Blödmann!
  • Der hat doch keine Ahnung!
  • Was erlauben!

Nie fühlte ich mich Giovanni Trappatoni in seiner berühmten Wutrede näher als in diesem Moment. Und so gingen 12 Jahre Achtsamkeitstraining durch eine E-Mail den Bach hinunter. Da war sie wieder die Kalaschnikova! Ich kann echt gut wütend sein, nach wie vor. So viele Jahre Übung.

Die ärgerliche Achtsamkeitsexpertin

Und ich gebe zu, selbst eine Woche nach dieser Mail kochte in mir immer wieder Ärger hoch. Ich versuchte es mit diversen Tipps, die ich auch meinen Coachees gebe:

  • „Dreimal tief durchatmen“ – „Ich kann das aber nicht weg-atmen!“
  • „Eine Runde um den Block gehen.“ – „Ist okay, wenn ich das mache, aber kaum sitze ich am Rechner, bin ich wieder im alten Muster“.
  • „Erinnere dich: Vergangenheit ist vorbei, kannst du nicht ändern!“– „Ich bin trotzdem sauer!“
  • „Eine Nacht drüber schlafen“ – „Was war noch mal Schlaf?“

Irgendwie half nix so richtig. Das wiederum ärgerte ich mich zusätzlich, schließlich sollte ich als Achtsamkeitsexpertin das nun wirklich besser können. Verdammte Hacke!

Achtsamkeit bedeutet Impulskontrolle

Wie es der Zufall so wollte, hatte ich einige Tage drauf Gelegenheit zum Austausch mit zwei von mir sehr geschätzten Experten. Am Sonntag besuchte ich die Premierenlesung von dem Achtsamkeitslehrer Georg Lolos. Er stellte sein neues Buch „Halt finden in sich selbst“ vor. In diesem Buch nennt Georg 13 Fragen, die, wenn man konsequent über diese meditiert, zu mehr Klarheit und innerem Frieden führen. Es war eine wundervolle Lesung, bei der auch gemeinsam meditiert und gechanted wurde. Besonders sprach mich aber eine Geschichte an, die Georg im Kloster in Plum Village erlebt hatte. Dort hatte er unter anderem gelernt, dass ein wichtiger Aspekt der Achtsamkeitspraxis die Impulskontrolle ist. In der Meditation übt man, Impulsen wie z.B. dem Wunsch zu Kratzen, wenn es juckt oder Weglaufen vor Schmerzen zu widerstehen. In einigen Orden ist es Tradition, dass angehende Mönche und Nonnen bei ihrer Aufnahmezeremonie in den Orden drei kleine brennenden Kerzen auf dem Kopf tragen. Sie reagieren nicht auf den Schmerz, den sie spüren, wenn sich die Flammen in die Kopfhaut brennen. Die fingernagelgroßen Brandnarben, die diese Zeremonie mit sich bringt, tragen sie ihr Leben lang.

Auch Meister in Selbstkontrolle verlieren sie manchmal

Georg hatte sich mit einem Mönch, der diese Zeremonie mitgemacht hatte, angefreundet, ein Meister in Impulskontrolle. Als dieser aber das erste Mal von Georgs Schafskäse kostete, den Georgs griechische Mutter als besondere Delikatesse ins Kloster geschickt hatte, war der Mönch von dessen Geschmack so abgestoßen, dass er ihn spontan ausspuckte. Er konnte zwar den Schmerz von brennenden Kerzen auf dem Kopf ertragen, nicht aber den Geschmack von Feta. Laut Georg Lolos ist es unser Job, „auch diesen Verlust (von Selbstkontrolle) liebevoll zu akzeptieren“ (S. 76).

Ich entspannte mich. Wenn selbst so ein Mönch nach jahrelanger Praxis immer mal wieder die Selbstkontrolle verliert, dann ist es wohl okay, wenn ich für ein paar Tage innerlich schimpfe wie ein Rohrspatz. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen und ich habe hoffentlich noch ein paar Jahrzehnte, um mich in Gelassenheit und Gleichmut zu üben. Das wird schon noch oder, um den High Performance Coach Matt Griggs zu zitieren: Be kind to yourself!

Apropos Matt. Gestern nahm ich an einer seiner monatlich stattfindenden Session für Fortgeschritten teil. Zeit für den Austausch mit Gleichgesinnten und gemeinsame Reflektion. Kann es einen besseren Start in die Woche geben? Jemand in dem Meeting fragte, was er machen sollte, da ihn ein Mensch immer wieder triggere. Matt fragte:

„Was ist es, das du von ihm möchtest, aber nicht bekommst?“

Was für eine wundervolle Frage! Was wollte und bekam ich nicht von dem Geschäftsführer, wenn er anmerkte, er hätte eine Erwartunsgabfrage gut gefunden? Ich wusste sofort, was los war. Tief unter meiner Verärgerung über den Vorschlag lag der Wunsch: „Sag mir, dass ich eine gute Beraterin bin“. Es ging also um Anerkennung. Anerkennung ist laut Georg Lolos neben Kontrolle, Konsum und Dominanz etwas, was unserem Ego besonders wichtig ist. Wird einem dieser Wünsche nicht entsprochen, dann lässt unser Ego uns die merkwürdigsten Dinge tun. In meinem Fall brachte mich der unerfüllte Wunsch nach Anerkennung nachts um den Schlaf und ließ mich Gift und Galle spucken. Die Erwartungsabfrage war quasi Fetakäse für mein Ego.

Ich brauche nichts und mein Ego möchte nur mein Bestes

Im Meeting konnte man konnte sehen, wie es in dem Teilnehmer, der die Frage nach dem Trigger gestellt hatte, arbeitete.
Matt legte nach: „Was brauchst du wirklich?“
Schweigen.
Matt: „Du brauchst nichts von ihm. Gar nichts.“

Ich lachte erleichtert auf. Ich brauche gar nichts von dem Geschäftsführer, den ich im Übrigen durchaus sympathisch fand und für sehr intelligent halte. Mein Ego aber hat Angst, dass ich nicht gut genug bin. Es findet immer wieder Gelegenheit, mir diese Angst überzustülpen, dieser Schlingel. Und es meint es nur gut, es möchte mein Bestes.

Aber wer entscheidet, was gut für mich ist? Mein Ego oder ich?

Liebes Ego, entspann dich. Ich mache bestimmt nicht alles perfekt, aber ich lerne ständig hinzu. Und eins weiß ich ganz sicher: Erwartungsabfragen sind für mich Käse. Ich liebe Käse, aber nicht diesen. So einfach. Und jeder hat darf seine Meinung dazu haben. PEACE!