„Hast du eine Lieblingssurferin?“ fragte mich vor einigen Jahren mein Surfkumpel Yannick.
„Carissa Moore“ antwortete ich wie aus der Pistole geschossen.
„Aber die surft doch wie ein Mann!“ entgegnete Yannick.
Ja? Was heißt das: surfen wie ein Mann? Oder wie eine Frau? Und wer definiert das?

Frauenthemen im Allgemeinen und Gendern im Besonderen interessieren mich nicht. Ich habe dazu nicht mal eine Meinung, die ich äußern könnte. Allerdings interessiere ich mich sehr für das menschliche Gehirn und habe vor kurzem das sehr empfehlenswerte Buch „Das Gehirn hat kein Geschlecht“ von Daphna Joel gelesen. Joel hat auf der Suche nach typisch männlichen bzw. weiblichen Gehirnen über 1400 Gehirnscans analysiert. Ihre Erkenntnisse sind dabei vereinfacht folgende:

Das Gehirn hat kein Geschlecht

  1. „Die meisten Gehirne setzen sich aus einzigartigen „Mosaiken“ von Merkmalen zusammen, von denen einige häufiger bei Frauen auftreten, andere häufiger bei Männern, wieder andere gleich häufig bei Frauen und Männern“. (Zitat Seite 78, Aus D. Joel.: Das Gehirn hat kein Geschlecht. 2021).
  2. Es gibt aber auch Menschen mit männlichem Genital (so beschreibt Joel das), sprich Männer, die eher weibliche „Mosaike“ im Gehirn aufweisen und umgekehrt. Bei diesen Menschen sind Verhaltensweisen oder Persönlichkeitseigenschaften stärker ausgeprägt, die eher für das jeweils andere Geschlecht „typisch“ sind.
  3. Nicht das Genital und auch nicht damit einhergehende Hormoncocktails legen die Strukturen und Verschaltungen unserer Gehirne und damit unser Denken oder unsere Persönlichkeit fest. Stattdessen haben wir Konzepte von Männern und Frauen. Wir erzählen uns (unbewusst) Geschichten über diese und verhalten uns dementsprechend und das formt die Persönlichkeit.

Aus Babys werden kommunikative Frauen und Männer – wenn man mit ihnen spricht 

Praktisch sieht das so aus: Wir sprechen z.B. im Durchschnitt mit weiblichen Babys mehr als mit männlichen, weil wir unbewusst vermuten, sie seien kommunikativer und sie werden es dann auch. Das ist zutreffend im statistischen Mittel. Es gibt aber immer wieder Jungs, denen genauso viel vorgelesen wird, wie im Durchschnitt einem Mädchen. Genauso gibt es Eltern, die ihre Töchter genauso körperlich fordern, wie man es üblicherweise mit einem Jungen tut. Das führt dazu, dass es auch kommunikative und phantasiebegabte Männer gibt und Frauen, die sich in toughen „Männersportarten“ durchsetzen.

Denken – Geschichten, die wir uns permanent selbst erzählen

Nun beschäftige ich mich seit vielen Jahren weniger mit der Frage, warum jemand ist wie er ist. Es interessiert mich viel mehr, wie sich Menschen verändern können. Dabei schätze ich „The Work“ von Byron Katie sehr. In dieser Arbeit wird der Wahrheitsgehalt von Gedanken, die wir über uns und andere haben, sehr konsequent hinterfragt. Wer wärst du ohne Deine Geschichte? fragt Byron Katie. Die Geschichten, die wir uns permanent selbst erzählen, nennen wir im Übrigen „Denken“.

„The Work“ wendete ich vor einiger Zeit bei einem weiblichen Coachee, nennen wir sie Tanja, an. Tanja ist eine neue Führungskraft im Controlling eines mittelständischen Unternehmens. Sie ist klug, überaus kompetent und ehrgeizig. Ihr Geschäftsführer hält große Stücke auf sie, dennoch verkauft sie sich und ihre Leistung oft unter Wert. Tanja und ich bereiten gemeinsam die erste von ihr geleitete Budgetplanungsrunde vor, bei der einige Meetings mit den Führungskräften anstehen. Tanja ist inhaltlich top vorbereitet und sieht dennoch dem ersten Meeting mit einem mulmigen Gefühl entgegen.

Die eigenen Geschichten ins Wanken bringen

Ich: „Was ist Deine Sorge, wenn Du an den Termin denkst?“
Tanja: „Die nehmen mich nicht ernst, weil ich eine Frau bin.“

Wir reflektieren zunächst, wer Tanja eigentlich nicht ernst nimmt.

  • Sind das andere Führungskräfte?
  • Oder sind es ihr hoher Anspruch und ihre Angst, nicht gut genug zu sein, die ihre eigene Leistung mindern?
  • Fällt es ihr nicht selbst schwer, ihre eigenen Ergebnisse voll zu würdigen?
  • Nimmt sie sich ihrer neuen Rolle bereits komplett ernst?

Die Geschichte, die Tanja sich über ihre Führungskräfte erzählt, kommt ein wenig ins Wanken.

Wer wärst du ohne den Gedanken?

Ich lege nach und stelle Byron Katies vier Fragen.
Ich: „1. Frage: Ist das wahr: Du bist eine Frau?“
Tanja schaut mich vollkommen irritiert an: „Ja klar!“
Ich: „2. Frage: Kannst Du mit absoluter Sicherheit wissen, dass das wahr ist?“
Tanja: „Ja sicher bin ich eine Frau. 100%!“
Ich: „3. Frage: Wie reagierst Du, wenn Du den Gedanken glaubst: „Ich bin eine Frau“?“
Tanja: „Ich werde unsicher und denke, die nehmen mich nicht ernst. Ich fühle mich klein und denke, ich kann mich ohnehin nicht durchsetzen“.
Ich hake nach: „Was siehst Du in den Führungskräften, wenn Du den Gedanken glaubst: „Ich bin eine Frau“?“
Tanja schließt die Augen und spürt in sich hinein: „Die werden groß wie ein unüberwindbares Hindernis. Ich verliere den Mut. Es macht für mich fast keinen Sinn mehr, in das Meeting zu gehen“.
Ich: „4. Frage: Wer wärst Du ohne den Gedanken: ich bin eine Frau?“

Den Gruselfaktor der eigenen Geschichte minimieren

Diese Frage ist für Menschen, die mit „The Work“ nicht vertraut sind, oftmals irritierend. Es geht nicht darum, Fakten zu leugnen. Natürlich ändert sich an Tanja und der Situation faktisch nichts. Sie hat nach wie vor ihre Erfahrungen und das Meeting gut vorbereitet, auch ihr Genital ist nach wie vor vorhanden. Sie soll jedoch für einen Moment lediglich den Gedanken: „Ich bin eine Frau“ ausblenden. Man kann sich das so vorstellen, als würde man in Alfred Hitchcocks Thriller Psycho den gruseligen Soundtrack abstellen. Es geht in dem Film immer noch um Mord, aber der Gruselfaktor nimmt ab. Da Tanja die Methodik „The Work“ gut kennt, gelingt ihr das Ausblenden des Gedankens: „Ich bin eine Frau“ sofort. Sie antwortet auf die Frage: „Wer wärst du ohne den Gedanken?“

„KOMPETENT.“

In diesem Moment begriff ich selbst einiges.

Vielseitigkeit beginnt im eigenen Kopf

Es sind nicht „nur“ „die Männer“ der Ansicht, Frauen seien weniger kompetent. Viele Frauen, wie Tanja, glauben es unbewusst selbst und ich, wenn ich ehrlich bin, manchmal auch. Es gibt einen Teil in mir, der immer wieder Männern mehr zutraut als Frauen. Dieser Teil glaubt, Menschen mit einem männlichen Genital können besser rechnen, seien strategischer und klüger, mutiger und geschäftstüchtiger als Menschen mit einem weiblichen Genital. Es mag Männer geben, bei denen dies der Fall ist, aber auch Männer, denen Frauen genau in diesen Kompetenzen überlegen sind. Bestimmte Eigenschaften sind im Mittel mehr bei dem einen Geschlecht vertreten als bei dem anderen. Ob dies jedoch auf den konkreten Mann oder die konkrete Frau zutrifft, die gerade vor mir sitzt, muss sich erst herausstellen. Wie viel leichter täten wir uns damit, Teams vielseitiger zu besetzen, wenn wir Menschen hierfür ein echtes Bewusstsein entwickeln würden? Wie anders könnten wir das Miteinander gestalten, wenn uns die (unbewussten) Geschichten „von Frauen sind so – und Männer sind so“ losließen?

So viel mehr als eine Frau

Ich lasse Tanja die „Umkehrungen“ machen. Ein wichtiger Bestandteil von „The Work“ ist es, den ursprünglichen Gedanken – in diesem Fall: „Ich bin eine Frau“ – umzukehren und Beweise zu finden, warum diese Umkehrungen auch wahr sein können. Wenn dies gelingt, verliert der ursprüngliche Gedanke seine (gruselige) Wirkung.

Tanja etwas verunsichert: „Ich bin KEINE Frau?“
Ich: „Warum könnte das wahr sein?“
Tanja: „Weil ich in dem Moment einfach nur der Controller bin und es vollkommen unerheblich ist, welches Geschlecht ich habe. Weil ich eine Funktion habe. Weil es um die Planung geht und nicht um mich. Weil ich ein Thema vertrete. Weil ich so viel mehr bin als eine Frau.“ BÄM! Keine weiteren Fragen.

Vor einigen Wochen sprach mich der Geschäftsführer von Tanja an und wollte wissen, was ich mit ihr gemacht habe. Sie sei gar nicht mehr wieder zu erkennen. Sie wirke so selbstsicher und aufgeräumt. Ich sagte dazu nichts und bat ihn, Tanja selbst zu fragen. Als Coach arbeite ich nach dem Motto: was in Vegas passiert, bleibt in Vegas.

Surfen war 2021 erstmalig eine olympische Disziplin. Carissa Moore hat die Goldmedaille der Frauen gewonnen – zurecht. Sie war strategisch, klug und kompetent. Sie hat aus ausgesprochen schwierigen Bedingungen das Beste gemacht. Ihr Surf war voller Power und ästhetisch. Als sie realisierte, dass sie gewonnen hatte, weinte sie noch im Wasser Freudentränen. Genauso wie der männliche Gold-Medaillengewinner Italo Ferreira. Carissa ist eine Frau. Italo ist ein Mann. Sie sind beide fantastische Surfer und beeindruckende Menschen. Vollkommen unabhängig vom Genital. Ende der Geschichte.