„Wie möchte ich mir und anderen begegnen?“ fordere ich meine Coachees regelmäßig auf, sich zu fragen. Ganz oben auf der Antwortliste steht: gelassen. Kein Wunder, zerren doch Vorgesetzte, Kunden, Lieferengpässe und seit bald zwei Jahren eine globale Pandemie an den Nerven meiner Kunden.

„Aber wenn ich gelassen bin, ist mir dann nicht alles egal? Ist das nicht kontraproduktiv, wenn ich Leistung steigern möchte?“ fragte mich letzthin Herr S., Geschäftsführer aus der Energiebranche. Ich arbeite mit ihm und seinen Führungskräften daran, die Kooperationsbereitschaft und damit die Leistung im Unternehmen zu erhöhen. Innerlich seufzte ich, als ich die Frage, gefühlt zum 1.000 Mal, hörte. Ein Klassiker unter den Missverständnissen im Bereich der Achtsamkeit.

Mitarbeiter beschleunigen – Energie ins System bringen?

Tief in vielen von uns ist die Idee verankert, etwas tun zu müssen. Je mehr wir uns anstrengen, je härter wir kämpfen, desto eher gelangen wir an unser Ziel. Führungskräfte müssen Mitarbeiter motivieren, Menschen beschleunigen und dafür sorgen, dass Energie ins System kommt.

Ähnliches dachte ich vor 25 Jahre bei meiner ersten beruflichen Station als Beraterin. Ich arbeitete im Kommunikationsteam bei einer SAP-Einführung bei einem Berliner Unternehmen des öffentlichen Diensts. Einer der Kundenmitarbeiter in meinem Team war Herr P. Herr P. machte viele Kaffee- und Raucherpausen und las während der Arbeitszeit Zeitung. Ansonsten bewegte Herr P. sich gemächlich, arbeitete wenig und sehr, sehr langsam. Weder freundliche Worte noch klare Ansagen konnten ihn beschleunigen. Kritik ließ Herr P. geduldig über sich ergehen. Von außen betrachtet schien er ruhig und gelassen.

„Ick arbeite mir doch nicht tot!“

Eines Tages fragte ich ihn: „Meinen Sie nicht, dass wenn Sie sich ein wenig mehr einbringen und gute Ergebnisse erzielen, dass das eine positive Auswirkung auf Ihre Weiterentwicklung im Unternehmen hat?“
Herr P.: „Ach, Frollein Beraterin, soll ich Ihnen mal sagen, wie das hier läuft?“
Ich: „Klar!“
Herr P.: „Na, wir werden hier nach BAT bezahlt. Das heißt: je älter du bist und je länger du dabei bist, desto mehr verdienst du. Da arbeite ick mir doch nicht tot. Sonst erleb ick die viele Kohle ja nicht mehr.“ Berliner Schnauze nennt man das, glaube ich.

Das Brodeln unter der Oberfläche

Dann folgte eine minutenlange Schimpftirade von Herrn P. Wie sinnlos das Projekt sei, in das man ihn gesteckt und dass man ihn degradiert habe, und dass es unmöglich sei, wie das Unternehmen mit Führungskräften wie ihm umginge usw. Huuii!Da hatte ich wohl in ein Wespennest gestochert. Herr P. schleppte anscheinend eine Menge Ärger mit sich herum, der ihn sehr beschäftigte. Unter seiner von vielen als gelassen erlebten Oberfläche brodelte es heftig.

Emotionen unterdrücken – harte Arbeit

Heute weiß ich, dass viele Führungskräfte, auch wenn sie von außen ruhig wirken, innerlich Kämpfe ausfechten, die den Großteil ihrer mentalen Ressourcen in Anspruch nehmen. Sie sind sehr häufig damit beschäftigt, ihre Emotionen im Arbeitsalltag zu unterdrücken. Das ist harte Arbeit und echt anstrengend. Manchmal dringt etwas von dem Brodeln nach außen in Form von Sarkasmus oder Wutausbrüchen.

Energiefresser: innere Kämpfe

In meinen Coachings analysiere ich gemeinsam mit Führungskräften, welche Kämpfe diese im Stillen kämpfen, teilweise, ohne sich dessen gewahr zu sein. Welche Zustände, in denen sie sich befinden, rauben ihnen die Energie, das zu tun, was zu tun ist? Diese Zustände führen dazu, dass Meetings zäh und Entscheidungen schwierig werden und man nicht das sagt und tut, was eigentlich erforderlich wäre. Kurz: es geht nichts voran. Die Leistung sinkt.

Klassiker unter diesen inneren Kämpfen sind:

  • Enttäuschung, einen Posten nicht erhalten zu haben
  • Verletzung über eine Degradierung
  • Genervtsein, von anderen, die unverhältnismäßig viel Raum (im Meeting) nehmen
  • Angst, den Kopf abgerissen zu bekommen, wenn man den Mund aufmacht
  • Wut darüber, nur von Idioten umgeben zu sein und alles alleine machen zu müssen.
  • Unverständnis über Entscheidungen von „denen / dem da oben“
  • Verzweiflung, nicht gehört zu werden
  • Hochmut zu wissen, was das Beste für das Unternehmen ist und
  • Irritation darüber wie unprofessionell hier alle arbeiten (außer mir)
  • Sorge, dem eigenen Anspruch nicht zu genügen
  • Erschöpfung, weil das schon ewig so geht und nie ein Ende nimmt

Schwerstarbeit, die nicht aufs Ziel einzahlt

Da ich auch mit dem Team von Herrn S. Einzelcoachings durchführe, weiß ich, was in den Köpfen dieser hochbezahlten Führungskräfte vor sich geht, während Herr S. sich fragt, wie er mehr Energie ins System bringen kann. Es ist aber gar nicht zu wenig Energie im System, im Gegenteil! Die Führungskräfte leisten mentale Schwerstarbeit. Diese zahlt allerdings nicht auf die angestrebten Ziele ein und das macht das Team mürbe. Nun ich bin ich in der Zwickmühle, weil Herrn S.‘ Führungskräfte mir im Vertrauen sagen, was sie beschäftigt. Eine Führungskraft nervt an ihrem Chef: „Was der schon für Hosen trägt!“ Da Vertraulichkeit die Grundvoraussetzung für meine Arbeit ist, kann ich Herrn S. nicht sagen, was seine Führungskräfte denken und fühlen, während sie auf ihn passiv oder gar gelassen wirken.

Gelassen ist nicht abgestumpft

Daher beantworte ich Herrn S.‘ Frage folgendermaßen: „Gelassenheit heißt nicht: mir ist alles egal. Das ist abgestumpft. Gelassen zu sein bedeutet: wahrzunehmen, was passiert, ohne automatisch zu reagieren. Gelassen heißt, nicht auf Autopilot zu sein. Es heißt, nicht das zu machen, was man macht, nur weil man darin geübt ist. Gelassenheit bedeutet, weise Entscheidungen treffen zu können. Aus einem Zustand von Ärger, Angst und Wut gelingt das nicht. Mit dieser Antwort konnte Herr S. etwas anfangen.

Neuer Raum für neue Wellen

In den letzten Wochen habe ich einen zweiten Coaching-Raum in meinem Büro eingerichtet. Es schien mir eine weise Entscheidung, um auch in der 4., 5. oder 6. Corona-Welle Kunden bei mir empfangen zu können. So kann ich nach jedem Termin den Raum wechseln und den anderen stundenlang lüften. Ich war begeistert von der Idee, Bilder des von mir sehr geschätzten Fotografen Massimo Pardini aufzuhängen. Riesige Wellen sind auf diesen zu sehen und die Energie des Ozeans ist spürbar. Ich fragte diverse Kunden nach deren Meinung zu den Bildern. Katja, einer von den Menschen, die inzwischen vom Kunden zur Freundin geworden ist, meinte, sie könne sich nicht vorstellen, dass man sich bei dem Anblick der Bilder entspannen könne. Sie empfinde dabei. „Du wirst von der brutalen Wucht zerschmettert, der Wal von dieser Welle nimmt dich mit“.

Weiser Einsatz von Energie

Und genau deswegen habe ich mich für diese Bilder entschieden. Genau das ist es, was ich in meinen Coachings vermitteln möchte: gerade, wenn es turbulent zugeht, NICHT in Panik zu geraten, sondern bei sich zu bleiben und weise zu entscheiden, die eigene Energie sinnvoll einsetzen. Nicht das Ereignis bestimmt über mich, sondern ich bestimme, wie ich mit dem Ereignis umgehe.

  • Will ich mich einer Herausforderung stellen: ja oder nein?
  • Wenn ja, bin ich bereit, konsequent alles zu geben?
  • Bin ich präsent und tue jetzt, was jetzt zu tun ist?
  • Oder mühe ich mich mit altem Ärger ab, den ich schon lange mit mir rumschleppe?
  • Kann ich unnötige Kämpfe sein lassen?
  • Kenne und akzeptiere ich meine Grenzen?
  • Kann ich „Nein“ sagen zu einer Herausforderung, egal was andere von mir erwarten oder denken?
  • Kann ich warten, bis der Sturm vorbei ist und mich dann in die Fluten stürzen?

Egal, was da draußen los ist, wie möchte ich mir und anderen begegnen? Ist nicht gerade in diesen turbulente Zeiten „GELASSEN“ eine sehr weise Antwort?

 

Photos Storm & Fortress by Massimo Pardini