„Frau Keromosemito, mein Chef hat mich um Feedback gebeten. Ich habe da ein paar Kritikpunkte an ihm. Meinen Sie, ich soll ihm wirklich sagen, was ich von ihm denke?“, fragte mich letzthin Herr M., Mitarbeiter in einem medizintechnischen Unternehmen. Das mit dem Kritiküben ist ja immer so eine Sache. Rational können wir nachvollziehen, dass es sinnvoll ist, jemanden, wenn er sich nicht „richtig“ verhält, dies zurückzumelden. Wie soll derjenige denn sonst verstehen, dass sein Verhalten nicht in Ordnung ist?
Immer wieder liest man, dass es auf den Chefetagen überdurchschnittlich viele Narzissten gibt. Das kann ich so nicht bestätigen. Die Chefs, mit denen ich arbeite, erlebe ich nicht als psychologisch auffällig. Es kommt aber zu befremdlichen Verhaltensweisen. Kein Wunder, je weiter oben die Führungskraft in der Chefetage angesiedelt ist, um so geringer ist die Anzahl derer, die es wagen, ein ehrliches Feedback zu geben. Zu groß ist die Sorge, der Chef könne es uns übelnehmen, wenn wir ihn kritisieren. Kritik könne (unbewusst) gegen uns verwendet werden, z.B. bei der nächsten Gehalts- oder Beförderungsrunde.
Wir Berater tun uns hier ein wenig leichter. Berater haben heutzutage so ein wenig die Rolle des Hofnarren. Wir können Hierarchen gegenüber unangenehme Wahrheiten aussprechen, ohne dass uns der Kopf abgeschlagen wird. Doch wo sind wir eigentlich, wenn uns derartige Gedanken plagen? Gehaltsstop, geplatzte Karrieren, abgeschlagene Köpfe? Definitiv nicht im Hier und Jetzt, sondern in einer Phantasie. Unsere Angst hat uns unbewusst in ein Horrorszenario katapultiert, in dem wir unsere Kinder als Waisen am Hungertuch nagen sehen, weil wir den Kopf verloren haben. Nichts wie raus da! Angst ist selten ein guter Ratgeber.
Das Thema „Wie sage ich es meinem Chef?“ ist ein Dauerbrenner in meinen Trainings und Coachings. Dabei arbeite ich mit meinen Kunden weniger daran, perfekte oder geschliffene Formulierungen zu finden, sondern unterstütze sie darin, Kritik so zu formulieren, dass diese zu ihrem Kommunikationsstil passt. Kritik KANN vom Chef negativ aufgefasst werden, MUSS sie aber NICHT. Dies hängt zu 50% von Ihnen ab und zu 50% vom Chef. Manch einer ist offen und verträgt klare Worte, andere reagieren schnell verletzt. Meiner Erfahrung nach nehmen jedoch die meisten Führungskräfte ehrliche Worte dankbar auf, auch, wenn sie im ersten Moment schlucken müssen. Ich empfehle aber mit aller Entschiedenheit, Kritik unter vier Augen und dabei ehrlich, klar und zugleich wertschätzend zu kommunizieren.
Weisheit ist, wenn man auf seinen eigenen Rat hört. Ich bin weit davon entfernt, weise zu sein. Im Gegenteil, seit Jahren arbeitet ich daran, meinen Mitmenschen wertschätzend zu begegnen. Es gelingt mir bei weitem nicht immer. Eher erhalte ich das Feedback, ich könne deutlich an Diplomatie hinzugewinnen. Dies trug mir vor mehr als 20 Jahren den wenig schmeichelhaften Spitznamen „Kalaschnikova“ ein. Ich scheine mich, was das Thema Diplomatie angeht, nur sehr, sehr langsam weiterzuentwickeln.
So berichtete vor einiger Zeit Herr S., Geschäftsführer eines Schweizer Großunternehmens, er habe bei der letzten Führungskräftekonferenz die Türen pünktlich nach der Mittagspause von innen absperren lassen, um den notorischen Zuspätkommern eine Lektion zu erteilen. Er habe dann sehr konsequent die Veranstaltung mit nur 90% der Führungskräfte fortgesetzt. Nun ist mir bewusst, dass der Schweizer an sich sehr viel Wert auf Pünktlichkeit legt, dennoch war ich von der Vorgehensweise entsetzt und entgegnete ihm: „Sind Sie irre? Lassen Sie das!“
BÄM, da war sie wieder, die Kalaschnikova. Spontan, impulsiv und alles andere als wertschätzend. Sieben Jahre Meditation und Achtsamkeits-Training waren wie weggeblasen. Ich weiß nicht, wer nach diesem Kommentar mehr verdutzt war, Herr S. oder ich. Herrn S.‘ Gegenreaktion kam prompt. Er erklärte, dass man im Unternehmen schon mehrfach über den Effizienzverlust durch das Zuspätkommen gesprochen habe und dass er es leid sei. Er wisse ja, dass dies keine populäre Maßnahme sei, aber man müsse als Chef ja auch konsequent sein. Schließlich habe man eine Vorbildfunktion. Seine Rechtfertigungen endeten mit der Aussage: „Was soll ich denn noch tun, damit die Führungskräfte endlich begreifen, dass sie pünktlich erscheinen sollten?“
Ich fühlte mich so ein wenig wie beim Surfen, wenn von hinten eine kopfhohe Welle auf mich zugerollt kommt. Ich denke dann oft, das ist zu groß, dass schaffe ich nicht. Ich bekomme Angst vor meiner eigenen Courage und dem drohenden Wipe-out, also davor, dass die Welle über mir zusammenbricht und ich unter sie gezogen werde. Man weiß dann für unendlich lang anmutenden 5-10 Sekunden nicht, wo unten oder oben ist. Das ist eine gute Übung für einen Kontrollfreak wie mich. Ich liebe das Surfen. Es schließt „vielleicht“ und „ich probiere mal“ aus. Es ist kompromisslos. Jede Welle ist eine einmalige Chance. Wenn man zögert, ist es oft schon zu spät. Wenn man jedoch die Angst überwindet und mit vollem Einsatz paddelt, kann man es auf die Welle schaffen. Dann wird man mit dem besten Gefühl der Welt belohnt, dem sogenannten Stoke. „You go for the wave, or you don’t“.
Ich verstand, dass es auch hier mit Herrn S. kein Zurück mehr gab. Ich hörte nicht auf mein flaues Bauchgefühl, das mir weismachen wollte, dass meine Kinder demnächst zu Halbwaisen würden. Angst ist selten ein guter Ratgeber. Ich atmete tief durch und sagte klar und deutlich: „Herr S. tut mir leid, ich bleibe dabei, das war eine ECHT BLÖDE Idee von Ihnen. Mit Mitarbeitermotivation hat das Null zu tun!“ Dies wirkte auf Herrn S. wie ein Weckruf. Als intelligenter und selbstreflektierter Mensch konnte er sehr schnell erkennen, dass er aus einer Verärgerung agiert hatte. Auch Ärger ist kein guter Ratgeber. Es ist sinnlos, sich über die Unpünktlichkeit seiner Mitmenschen aufzuregen. Zu (fast) jedem Meeting kommt jemand zu spät. Im Übrigen ist auch jeder von uns ist schon mal zu spät gekommen, egal wieviel wert wir auf Pünktlichkeit legen. Ich empfahl Herrn S.: „Wenn Sie sich das nächste Mal darüber ärgern, dass jemand zu spät kommt, dann nehmen Sie erst mal wahr, dass Sie sich ärgern. Wo spüren Sie das im Körper? Atmen Sie dort hin. Nutzen Sie diese wenigen Minuten, in denen gerade nichts zu tun ist, sich mental um sich selbst zu kümmern. Wie geht es Ihnen gerade? Erlauben Sie sich zu entspannen. Gönnen Sie sich fünf Minuten Pause. Davon machen Sie ohnehin zu wenige. Eines ist klar, egal wieviel Sie sich ärgern, der Kollege taucht davon nicht schneller auf. Der einzige, der leidet, sind Sie. Aus diesem Zustand heraus können Sie im Meeting nicht 100% präsent sein.“
Inspiriert zu diesen Ratschlägen hat mich mein Ausbilder Georg Lolos. Wenn sich in der Ausbildung erste Unruhe einstellte, weil die Gruppe nach einer Pause noch nicht vollständig war, sagte Georg oft: „Wir warten nicht, wir atmen“. Ich beherzige das seitdem.
- Ich warte nicht, ich atme, während die Kaffeemaschine sich aufheizt und mir den ersten Cappuccino zubereitet.
- Ich warte nicht, ich atme, wenn das WLAN besonders langsam ist und das Herunterladen einer Datei eine gefühlte Ewigkeit dauert.
- Ich warte nicht, ich atme, wenn die Dame vor mir in der Sicherheitskontrolle am Flughafen mit mit dem Sicherheitspersonal darüber diskutiert, dass sie ihre 200 ml Cremetiegel weder aufgeben noch wegwerfen möchte.
- Ich warte nicht, ich atme und tausche den Ärger ein gegen wertvolle Lebenszeit.
Auch Herr S. entspannte sich sichtlich. Ich durfte meinen Kopf behalten und wir sprachen im weiteren Verlauf des Coachings in Ruhe darüber, worum es bei der Führungskräftekonferenz tatsächlich ging: den Führungskräften Wertschätzung zu vermitteln für ihre sehr gute Leistung im vergangenen Geschäftsjahr und sie für das kommende Geschäftsjahr zu motivieren. Das war nun ziemlich in die Hose gegangen. Stattdessen hatte das Aussperren der Führungskräfte für sehr viel Unruhe gesorgt. Es ging nun darum, die nächsten Schritte zu planen. Die nächste Welle kommt mit Sicherheit. „Get ready!“
Das Verrückte ist rückblickend nicht, dass Herr S. die Türen hat abschließen lassen, sondern, dass er auch Wochen später noch der Überzeugung war, dies sei eine gute Idee gewesen. Das passiert, wenn man in einem feedbackfreien Raum lebt. Vor zwei Wochen berichtete einer meiner deutschen Coachees, auch in seinem Unternehmen habe der Chef die Zuspätkommer aus- und die anwesenden Führungskräfte eingesperrt. Keiner der Anwesenden, habe sich dagegen ausgesprochen – auch nicht im Nachhinein. Befremdliche Verhaltensweisen auf der Chefetage – mitnichten ein Schweizer Problem.
Ob es etwas bringt oder Sie ihren Kopf kostet, wenn Sie ihrem Chef ein Feedback geben? Das werden Sie nur wissen, wenn Sie es tun. Da Herr M. ein sehr gutes Verhältnis zu seinem Chef und dieser ihn stets gefördert hatte, machte ich ihm Mut, auch seine Kritikpunkte ehrlich anzusprechen. Er folgte dem Rat. Es scheint ihm nicht geschadet zu haben. Er steht immer noch in Lohn und Brot bei dem Unternehmen. Ich weiß natürlich nicht im Detail, wie ehrlich und offen Herr M. seinem Chef gegenüber war. Allerdings bin ich mir sicher, er hat das Gespräch ohne Kalaschnikov geführt, sondern mit der ihm eigenen, sehr ausgeprägten Wertschätzung.
Nachtrag: Meine Realität ist in der Regel deutlich besser als das, was ich mir so vorstellen kann. Gut einen Monat, nachdem ich diesen Artikel veröffentlicht habe, schrieb mich Herr M. an: Das Feedbackgespräch mit meinem Chef war sehr befreiend, für mich aber auch für Ihn. Die Reaktionen zu den einzelnen Punkten waren überraschend selbstkritisch und nach den ca. 30 min Feedback hat sich mein Chef aufrichtig bedankt („… das war das erste aufrichtige Feedback in den letzten 5 Jahren …“). Seit dem ist unser Verhältnis wieder deutlich entspannter.